Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
einmal nach. «Hier ist irgendwas Bekanntes», sagt er zögernd.
Ich sehe auf. «Ja?»
Er lächelt mir aufmunternd zu. «Die Aula. Vielleicht hatte ich hier Musikunterricht oder so.»
«Du hattest Musikunterricht? Welches Instrument hast du denn gespielt?»
«Weiß ich doch nicht mehr. Aber da war eine Aula. Mit einem Klavier. Ganz oben unter dem Dach. Man musste endlos Treppen steigen.»
Ich gehe in die Schule, während Thursen draußen wartet. Er geht in keines der Gebäude mehr. Leise schleiche ich durch die Gänge, weil in den Klassen Unterricht ist. Steige Treppe um Treppe, bis es nicht mehr weitergeht. Unter dem Dach sind nur das Sekretariat und die Lehrerzimmer. Flure mit Klassenräumen, ich lese jedes Schild an jeder Tür. Steige müde wieder herunter. Die Aula ist im Erdgeschoss.
Als ich wieder herauskomme, meine Füße brennen und meine Beine sind vom Treppensteigen noch schwerer als vorher, kann ich nur noch weinen.
«Erinnerst du dich eigentlich wirklich, oder denkst du dir das nur aus, damit ich mir nicht so sinnlos vorkomme?», frage ich und wische mir die Tränen weg.
Er küsst mich auf die Wange. «Ach, Luisa», flüstert er und drückt mich an sich. «Lass uns nach Hause gehen.»
Dann lässt er mich los und duckt sich hinter den Toyota, weil er eine Lehrerin auf dem Parkplatz entdeckt, die zwei Reihen weiter im Kofferraum ihres Audis nach etwas sucht. Als sie den Kofferraumdeckel mit dumpfem Knall zuschlägt, hat Thursen sich verwandelt, und der Wolf steht neben mir. Das Halstuch liegt zusammengeknüllt auf der Motorhaube. Ich schlinge es ihm um, und wir machen uns auf den Weg zum Wolfslager.
Als wir den Weg verlassen, ins Dickicht des Waldes eintreten, nehme ich dem Wolf mein Halstuch wieder ab. Ich weiß nicht, was damit passiert, wenn er sich in einen Menschen verwandelt. Verschwindet es dann auch? Oder verliert es die Farben? Ich weiß nicht. Ich habe nur dies eine Halstuch. Hänge es mir um. Und wirklich, als ich aufsehe, geht ein Mensch neben mir. Thursen muss nicht einmal seinen offenen Mantel glatt streichen. Nur die Haare wischt er sich aus der Stirn. Sich verwandeln, wechseln zwischen Mensch und Tier, er kann das so schnell. Sein Gesicht sieht müde aus, die Wangen ganz grau, und das Leuchten in seinen Augen ist verschwunden. Ich kann in seinem Menschengesicht so viel besser lesen als in seinem Tiergesicht. Thursen nimmt meine Hand, bis wir bei der Wolfshöhle sind. Das Lager ist leer.
«Morgen wieder?», frage ich. Ich setze mich nicht. Meine Beine sind so schwer und steif, dass ich danach vielleicht nie wieder aufstehen kann.
Thursen geht ein paar Schritte, fischt eine Flasche hinter einem Stein hervor und bringt sie mir. Es ist eine Plastik-Colaflasche, gefüllt mit Wasser.
Ich halte es gegen das Licht. Es ist ganz klar, kein bisschen grün. «Ist das aus der Havel?»
«Quatsch. Gibt doch überall Wasserhähne.» Er sieht mir zu, wie ich trinke. «Du kannst doch gar nicht mehr. Willst du nicht mal Pause machen? Nur einen Tag?»
Ich verschlucke mich. Huste. «Pause?» Ich gebe ihm die Flasche und ramme sie ihm dabei vor die Brust, dass das Wasser überschwappt und einen dunklen Fleck auf seinem Shirt hinterlässt. «Jeden Morgen, wenn ich aufwache, denke ich, dass gestern unser letzter gemeinsamer Tag gewesen sein könnte. Jedes Mal habe ich Angst, ich komme ins Lager, und mich sieht ein Wolf an. Nicht mehr du. Nur noch ein dummes Tier. Dass du nie wieder mit mir sprechen wirst. Dass du keine Arme mehr hast, mich zu halten. Und da fragst du, ob ich mal eine Pause machen will?»
«Und wenn wir wirklich was finden? Selbst wenn das tatsächlich das Vergessen eine Weile aufhält, es wird es nicht ewig tun.»
«Vielleicht haben wir dann wenigstens ein paar Wochen länger.»
«Das tust du alles für ein paar Wochen?»
Ich nicke. «Ich kämpfe um jeden Tag, den ich dich noch habe.»
Er stellt die Flasche auf den Boden, legt seine Arme um mich und zieht mich an sich. «Luisa», sagt er, «ach, Luisa.» Küsst mich.
Auf dem Rückweg fühlen sich meine Beine an, als wären sie Stöcke aus Holz. Mühsam halte ich mein Gleichgewicht.Mühsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Thursen hat recht. Ich bin am Ende meiner Kraft. Aber morgen, morgen ist ein neuer Tag.
Weit bin ich noch nicht, da höre ich hinter mir Schritte. Schnell und weich. Rascheln im Laub. Knistern im Gras. Sjöll ist mir nachgelaufen, greift meinen Arm, hält mich auf. Ich wäre doch auch so stehen
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