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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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einfachste Weg!»
    «Nein, Luisa», sagt er. «Ich kann da nicht hingehen, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet.»
    Ich küsse ihn auf die Wange. Zwinkere ihm zu. «Lass dich überraschen!»
    Er nimmt mich bei den Schultern und schiebt mich von sich, damit ich ihm ins Gesicht sehen muss. «Wie stellst du dir denn das vor? Ich gehe ins Lehrerzimmer und frage: Hallo, kann sich hier zufällig jemand an mich erinnern? Ich kann es nämlich nicht. Und wenn sie mich erkennen, was dann? Weißt du, ob ich nicht einen Grund habe, mich im Wald zu verstecken? Du hast gesagt, ich kann die Suche nach meiner Vergangenheit abbrechen, wenn ich etwas erfahre, was mir nicht gefällt. Wie, bitte, soll ich denn dann noch aussteigen?»
    «Du kannst doch einfach gehen! Du plauderst höflich, sagst, das war ein Scherz, und verschwindest wieder.»
    «Wahrscheinlich bin ich noch nicht volljährig, oder? Dann sucht mich höchstwahrscheinlich die Polizei. Luisa,die können mit mir machen, was sie wollen! Wenn mich wer erkennt, dann schleppen die mich zu meinen Eltern, ins Heim oder in den Jugendknast, was weiß ich, wo ich herkomme!» Er legt seinen Kopf wieder auf meine Schulter. «Nein, Luisa», seufzt er. «Das kannst du nicht von mir verlangen!»
    Wie halten uns fest, die Arme umeinandergeschlungen. Keiner sagt mehr was. Ich schließe meine Augen und fühle seinen ruhigen Atem unter meinen Händen. Plötzlich taumelt er. Ich blicke zu ihm auf. Er hat seine Augen halb geschlossen. Ist so fertig, dass er fast nicht mehr stehen kann.
    «Geh schlafen», flüstere ich.
    Er reibt sich mit der Hand über das Gesicht, nickt und verschwindet kurz darauf in der Höhle. Ich stelle mir vor, wie er sich jetzt als Wolf zusammenrollt. Warm und pelzig. Und ich bleibe hier, an Fabians Baum, um ihn nicht zu stören.
    Ich hebe die Blumen für Fabian auf. Schäle sie aus dem Papier. Thursen sagt, er hat sich an die Schulklingel erinnert. Ich kann mich auch noch an die Schulklingel erinnern in der Grundschule, die Fabian und ich besucht haben. Und an die selbstgemalten Plakate in der Eingangshalle, mit der Fabis Mitschüler von ihm Abschied genommen haben. Meine Eltern haben mit mir die Stadt verlassen, noch ehe die Blumen unter den Abschiedsgrüßen verwelkt waren.
    Während ich die Astern vor den Baumstamm lege, eine neben die andere, kommt Sjöll zu mir. Sie schreitet nicht wie sonst mit raubtierhafter Eleganz, sondern stampft mit jedem Schritt ihren Ärger in den Boden. Starrt mir ihren Vorwurf ins Gesicht.
    «Warum tust du ihm das an?», fragt sie. Kommt es mirnur so vor, oder kann ich bei ihren wütenden Worten wirklich ihre Wolfszähne blitzen sehen? «Er ist sogar nachts durch die Havel geschwommen, weißt du das? Quer durch den eiskalten Fluss. Und nur, weil ihr Gatow und Kladow ausgelassen habt. Warum, Luisa?»
    Wie soll ich es ihr erklären? «Ich will ihm seine Vergangenheit wiedergeben. Es würde ihm doch sicher bessergehen, wenn er wüsste, wo er herkommt. Wie er heißt. Er hängt doch völlig in der Luft!»
    «Das glaubst du?»
    «Jeder sollte wissen, woher er stammt», sage ich. «Es sind die Wurzeln, die einen stark machen.»
    «Alle Wurzeln? Ja? Egal, was man ausgräbt?» Sjöll zieht die Augenbrauen hoch. «Weißt du, dass Thursen letzte Nacht nochmal fünf Stunden herumgelaufen ist? Fünf Stunden! Nur wegen deiner dummen Idee?», sagt sie.
    «Dafür wissen wir jetzt, in welchem Stadtteil wir weitersuchen müssen!»
    «Weiter? Du willst noch weitersuchen? Ist es nicht endlich genug?»
    Ach, das meint sie. Dass ich darüber nachdenken soll, wer von uns beiden eigentlich sucht. «Nein, ich habe darüber nachgedacht. Es ist nicht meine Suche. Es ist seine. Ich suche für ihn.»
    «Thursen hat dich also darum gebeten?»
    «Sjöll! Ich will nicht, dass er alles vergisst! Dass er nicht mehr mit uns reden kann!» Mir kommen schon wieder die Tränen. Fließen in längst ausgewaschenen Pfaden meine Wangen hinab. «Du hast gesagt, du hast Rawuhn noch als Mensch gekannt. Ich will nicht, dass Thursen für immer ein Wolf wird, so wie Rawuhn! Was soll ich denn ohne ihn machen?»
    Sjöll will mir antworten. Kann nicht. Ihr Gesicht mit dem verärgerten Ausdruck fliegt zur Seite. Was sieht sie, dass ihr Blick so besorgt wird?
    Da kommt Karr angestolpert. Seine Beine rennen eckig. Hastig sieht er über die Schulter. Wo sind seine fließenden Bewegungen? Sonst kann er fast tanzen wie Thursen. So habe ich Karr noch nie gesehen. In seinen weit aufgerissenen

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