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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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Materialien unter den Arm geklemmt, kommt uns entgegen.
    «Habt ihr keinen Unterricht?», fragt sie. Bleibt stehen, sieht uns an, wartet auf Antwort. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Thursen zittert. Er ist blass, noch blasser alssonst. Seine Augen zucken hin und her, lassen seine Blicke hastig über die Wände rechts und links des Ganges springen. Da ist so etwas wie ein dunkler Schatten auf seinem Gesicht, der sich langsam vom Hals an aufwärtsschiebt. Eben war er noch nicht da.
    «Nee, wir haben ’ne Freistunde», sage ich zu der Lehrerin. Hoffe, dass es lässig klingt. Hoffe, dass sie nicht merkt, dass wir gar keine Schultaschen dabeihaben. Das Wunder geschieht, die Lehrerin geht weiter.
    Kaum ist sie außer Sicht, ich kann die Schritte ihrer Absatzschuhe noch klackern hören auf den Stufen der Treppe, da packt mich Thursen am Arm, rennt mit mir quer über den Gang und zerrt mich in einen kleinen leeren Raum mit dem Türschild «Gruppenraum/Streitschlichter». Hinter uns drückt er die Tür zu und lehnt sich gegen die leere Wand neben dem Papierkorb. Es riecht nach alten Büchern, Kreidestaub und ungelüftetem Zimmer. Thursen ist außer Atem, als hätte er ein Wild gehetzt. Nein, eher, als sei er selbst das gehetzte Wild. Er schließt die Augen, fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Legt den Kopf rückwärts gegen die Wand, den Blick zur Decke.
    «Luisa», stöhnt er, ohne mich anzusehen. «Verlange das nie wieder von mir, hörst du?»
    Er benimmt sich, als sei er gerade mit dem Leben davongekommen. Dabei sind wir nur ein paar Meter durch eine fremde Schule mit fremden Menschen gegangen. Gut, schulfremde Personen, und das sind wir natürlich, haben hier nichts zu suchen. Ich habe mich auch nicht wohl dabei gefühlt, aber: «Es war doch eigentlich gar nichts!»
    «Hast du nicht gesehen, wie die mich alle angestarrt haben? Alle? Die Schüler, die Lehrerin?»
    «Sie haben nicht gestarrt. Sie haben uns kurz angesehenund dann ihr Ding weitergemacht. Wieso auch nicht. Wir sehen doch ganz normal aus!»
    «Wir? Du vielleicht! Sieh mich doch mal an!»
    Und das tue ich. Sehe in sein schmales, blasses Gesicht mit den seidigen, dunkelgrauen Haarsträhnen, sehe ihm in die Schattenaugen. Ich sehe ihn oft einfach nur an, auch ohne dass er es weiß. Ich kann nicht anders, er sieht so schön aus. Ich fühle, wie mein Gesichtsausdruck zu einem Lächeln verschwimmt.
    Er stöhnt leise. «Jeden Moment habe ich gedacht, dass sie rausfinden, was mit mir nicht stimmt.»
    «Du hattest Angst?»
    Jetzt lächelt er auch. «Was glaubst du denn?» Er nimmt meine Hand und legt sie sich unter dem Pullover an die Brust, dorthin, wo ich seinen Herzschlag fühlen kann. Ein wildes Hämmern unter der samtweichen Haut. Seine Muskeln unter meiner Handfläche und an meinem Handrücken seine Hand, die meine hält. Mein Herz klopft jetzt bestimmt genauso schnell wie seins, ganz ohne Angst. Wir lächeln uns zu, und er tupft mir einen kurzen Kuss auf den Mund. Legt seinen freien Arm um mich, und ich lehne mich an ihn, den Kopf an seiner Schulter, bis unter meiner Hand sein Herzschlag langsamer wird.
    «Wenigstens weißt du jetzt, wo du zur Schule gegangen bist», flüstere ich. Ich denke daran, mit welcher Zielstrebigkeit er mich in den Streitschlichterraum gezogen hat. Vielleicht hat er hier schon früher gesessen und mit seinen Klassenkameraden diskutiert. Ich sehe mich um. Die kleine verschmierte Tafel an der Wand. Der Schrank, dessen rechte Tür halboffen schief in den Angeln hängt.
    «Es ist die falsche Schule», murmelt er in mein Ohr.
    «Verdammt!», flüstere ich. Lasse die Wut in mir aufsteigen,damit sie die Tränen der Enttäuschung vertreibt. Ich mache mich von Thursen los. «Verdammt!», fluche ich und trete gegen den Mülleimer.
    «Leise!», flüstert Thursen. Legt mir die Hand auf den Mund.
    Ich möchte schreien und soll nicht. Also schreibe ich. Nehme einen Kreidestummel und schreibe es auf die alte Tafel. Große, eckige Buchstaben: Verdammt!
    Auf die Schranktüren: Verdammt!
    Auf die Wände, die Poster, den Tisch und den Stuhl: Verdammt! Verdammt! Verdammt!
    Jetzt geht es mir besser. Nicht nachdenken. Nur schnell weiter, die nächste Schule. Neues Spiel, neues Glück. Ich streiche Thursen über die Wange, lächle ihm zu und gehe zur Tür. Ich habe die Türklinke schon in der Hand, da höre ich ihn, ganz leise. «Ich geh da nicht raus.»
    Meint er das ernst? «Was willst du denn machen?», frage ich. «Willst du warten, bis sie uns

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