Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Augen schwimmt die Angst. Er zittert. Lässt seine Tränen einfach über sein Gesicht laufen. Hat wohl gar nicht bemerkt, dass er weint. Er starrt nur Sjöll an. An seinem Blick vorbei, hinweg über seine Schulter, nickt Sjöll mir zu. Weist mit dem Kopf in die Richtung, aus der er gekommen ist.
Ich folge ihrem Blick. Was ist es, das ihn so erschreckt hat? Von weit weg höre ich Lachen. Eine Gruppe Schüler. Ich sehe sie herumalbern, sich schubsen, mit langen Stöcken an die Bäume schlagen. Bunte Rucksäcke tragen sie auf dem Rücken. Vielleicht sind sie auf einem Ausflug.
«Was –?», frage ich, aber Sjöll legt den Finger auf ihren Mund. Sie greift nach Karrs Arm, zieht ihn an sich und hält ihn fest wie ein verschrecktes Kind. «Das ist nicht deine Klasse», murmelt sie. «Du gehst nie mehr in die Schule. Das ist vorbei. Keiner wird dich mehr auslachen. Keiner wird dir mehr wehtun.»
Einen Moment noch steht er da mit hilflos herabhängenden Armen, wie eine Puppe, lässt alles mit sich geschehen. Dann vergräbt er sein Gesicht in den Händen. Schluchzen lässt seine Schultern zucken. Er krümmt sich in Sjölls Armen, sinkt in sich zusammen, bis er als Bündel zu ihren Füßen liegen bleibt. Als sie neben ihm hockt und ihn streichelt, über den Kopf, den Rücken, ist er schon ein Wolf. Sie summt eine fremde Melodie, die von weiten Wäldern,Frieden und Ruhe erzählt. Unaufhörlich kämmen ihre Finger durch sein Fell, bis seine Atemzüge langsam ruhiger werden und er seufzend die Pfoten ausstreckt.
Dann richtet sie sich zu mir auf, sieht mir in die Augen. Endlich bekomme ich meine Antwort. Oder doch nicht?
«Ich habe einen Fehler gemacht», sagt sie.
«Mit Karr? Was hat das mit mir zu tun?»
«Der Zettel, den du von mir gekriegt hast. Hast du den noch?»
Ich nicke. «Er liegt zusammengefaltet auf meinem Nachttisch. Aber ich habe ihn noch gar nicht gelesen. Tut mir leid.»
«Lies ihn nicht. Gib ihn zurück. Es war falsch, ihn dir zu geben, denn er geht von Werwolf zu Werwolf. Ich werde ihn verwahren, bis ich einen anderen Werwolf gefunden habe, dem ich ihn geben kann. Vielleicht kommt jemand neu zum Rudel, keine Ahnung. Erst wenn ich es nicht schaffe, jemand anderen zu finden, dann kannst du ihn haben und lesen.»
Ich nicke. Lächle zum Abschied, und zu meiner Verwunderung lächelt sie zurück. Ich mache mich langsam auf den Heimweg. Nichts mehr zu sagen. Ich bin enttäuscht, dass sie mir ihr Vertrauen entzieht, aber irgendwie kann ich es verstehen. Ich bin wirklich nicht wie sie, wie die anderen Werwölfe. Ich bin Luisa geblieben. Ich habe mich nicht verwandelt. Habe nicht für das Vergessen mit meinem Namen bezahlt.
Ich bin Luisa geblieben, weil Thursen es so wollte. Die anderen alle hatten keinen Thursen, an dem sie sich in ihren dunklen Stunden festklammern konnten, so wie ich es getan habe.
Thursen, der mir den Fabian-Baum geschenkt hat. DenBaum, um dessen Stamm ich kleine, hellviolette Herbstastern gebreitet habe. Die Stiele verschwinden in der Laubdecke. Von weitem sieht man nur noch violette Tupfen. Als hätte der Baum Blüten geweint.
Spät komme ich nach Hause und bin allein. Meine Schritte hallen durch die Wohnung. Wo sind meine Eltern? Egal. Ihr Tagesablauf hat mit mir nichts mehr zu tun. Ich lebe in einem anderen Universum. Nehme mir aus Gewohnheit etwas zu essen aus dem Kühlschrank und schalte den Fernseher ein. Mit angezogenen Beinen sitze ich im Fernsehsessel, beiße ab von meinem Käsebrot. Es ist kälter als die Steine draußen im Wald. Kalt wie Friedhofserde. Ich spucke den halbgekauten Bissen zurück auf meinen Teller. Spüle mir den Mund aus und trinke stattdessen ein Glas Saft. Den muss man nicht kauen und schmecken, nur schlucken. Der Fernseher flimmert hektisch. Wieder zappe ich mich durch die Programme. Meine Gedanken taumeln zwischen den Geschichten hin und her wie Nachtfalter und finden keinen Zugang. Bis etwas meine Finger lähmt. Eine Sendung in einem der unbedeutenderen Programme. Es geht um vermisste Kinder. «Ebenfalls seit über einem Jahr vermisst wird die inzwischen siebzehnjährige Marie K. aus Bremen», sagt der Sprecher. In einem Tonfall, als wollte er von einem Begräbnis berichten. Aus einem eingeblendeten Bild heraus blickt das Mädchen dem Sprecher über die Schulter. Lächelt mich an. Sjöll? Das ist Sjöll! Sie hat eine andere Frisur und andere Kleidung. Braune Haare, keine schwarzen. Aber: Das muss Sjöll sein. Der Satz «Ihre Zeugenaussage wäre für die
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