Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
mir, wie er mit mir fühlt. Dass es ihm genauso geht. Tupft mir mit seiner Zungenspitze Trost zu, den ich hungrig annehme. Seine Hände streichen meine Haare aus dem Gesicht, gleiten über meine Schultern, meinen Rücken herab, bis er mich um die Taille fasst und mich an sich drückt. Ich verliere mich ganz in ihm, bis alle Trauer in weite Ferne rutscht, wo sie mir nichts mehr anhaben kann. Nicht, solange er mir so nah ist, nicht, solange dieser Kuss dauert. Ich klammere mich an seine Schulter, drücke mich an ihn.
Atemlos lösen wir uns voneinander. Sehen einander in die Augen. Weiß er, was er da eben für mich getan hat?
«Danke», flüstere ich.
«Wofür?» Er lächelt. Hat seine Arme immer noch um mich gelegt.
Ich lege meine Stirn an seine Schulter. «Es hat für einen Moment nicht mehr so wehgetan.»
Wir stehen nur da, und ich atme. Atme den Wald ein und das Schweigen und Thursens Geruch.
«Komm, wir gehen zurück», sagt er und nimmt meine Hand.
Ein Eichhörnchen flüchtet keckernd vor uns. Springt weg vom Hauptweg den efeuberankten Stamm einer Tanne hinauf. Am Ausgang drückt Thursen die Tür auf, und wir sind schon wieder im Wald. Das Friedhofstor fällt knarrend hinter uns zu.
Thursen bleibt Mensch, geht schweigend neben mir her. Er muss nicht reden. Nichts, was er sagen könnte, wäre so tröstlich wie seine raue Hand in meiner. Seine warme Hand, die meine sanft drückt.
Als wir zurückkommen ins Lager, geht gerade die Sonne unter. Der Tag macht der Nacht Platz. Ein kleiner Teil von mir hofft immer noch, Sjöll sei da, würde lachen, und alles wäre nur ein Albtraum. Aber Sjöll ist nicht da. Natürlich nicht. Sjöll wird nie mehr da sein.
Es sind überhaupt keine Menschen im Lager, nur Wölfe. Sie sehen zu uns herüber, und ich fühle, dass sie warten. Keiner trägt einen silbernen Ohrring. Die Tränen steigen in mir auf und brennen in meinen Augen.
«Was wollen sie?», frage ich. Sehe zu den dunklen, struppigen Gestalten hinüber und blinzele, denn alles verschwimmt im Tränenschleier.
«Wir werden Sjöll jetzt ihr Lied singen und sie verabschieden», sagt Thursen. Seine Stimme klingt rau. Er nickt den Wölfen zu. Ihr Zeichen, sich im Kreis zu versammeln.
Ich wundere mich, dass er meine Hand immer noch nicht losgelassen hat. Wie selbstverständlich betritt er mit mir zusammen den Kreis. «Wenn ich mitsinge, werde ich mich dann auch verwandeln?», frage ich ihn und wische mir mit den Handrücken die Tränen weg. Wenn ich eine Wölfin werde, wird dann der Schmerz in meiner Brust auch weniger? Farbloser? Namenloser?
Thursen drückt meine Hand. «Nicht, wenn du es nicht zulässt.»
Nicht zulässt! O mein Gott. Ich weiß, was sein Händedruck bedeutet: Ich soll darum kämpfen, Mensch zu bleiben! Um diesen Schmerz soll ich kämpfen? Sjöll und Fabian, die mir fehlen wie Fleisch, das aus mir herausgerissen wurde, die Wunden zurückgelassen haben. Es tut so weh! Was verlangt er da von mir!
«Warum?», schniefe ich.
«Für mich.» Thursen beugt sich vor und flüstert es mir ins Ohr, ganz leise. Dann kniet er sich neben mich und wird Wolf. Auf der anderen Seite sitzt Karr. Er blickt ins Leere, dreht nicht den Kopf, scheint mich gar nicht wahrzunehmen. Es ist, als könnte er weit entfernt am Himmel etwas sehen, was ich nicht sehe. Neben ihm hockt Jerro, der Wolf mit der kahlen Stelle auf dem Rücken, Lurnak, den ich an dem strubbeligen Fell im Nacken erkenne. Krestor, Norrock und Fath schließen den Kreis.
Und dann beginnen sie zu singen. Zuerst ist es nur Thursen, der Leitwolf, der den Kopf zurückwirft und heult. Dann fallen die anderen ein, tief und heiser. Langgezogene Klagelaute verweben sich zu einem Netz aus Trauer über unseren Köpfen. Plötzlich bin ich mit dabei. Mit in der Einheit. Es tut so gut, den ganzen namenlosen Kummer zu fühlen und dann loszulassen. Ganz tief atmen. Ich vergrabe meine Menschenhände rechts und links in das Fell meiner Freunde, singe meine wortlosen Trauertöne in die Nacht. Tränen laufen mir übers Gesicht, und ich verwandele mich nicht.
Wir trauern die ganze Nacht hindurch, bis der Mond uns verlässt. Im Morgengrauen geht die Verzweiflung, und Leere und Erschöpfung treten an ihre Stelle.
Thursen und ich ziehen uns zurück. Ich wühle mich ins Laub der Höhle, die die anderen uns überlassen haben. Sie wissen wohl, dass Thursen und ich allein sein müssen, nach all der Trauer. Ihr Wolfsfell wärmt sie, sie brauchen den Schutz der Höhle nicht. Nicht so wie
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