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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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um mich selbst, sehe hinter die Bäume, will hinüber zur Höhle unter dem Brombeergebüsch. Plötzlich steht Thursen neben mir, wie aus dem Wald gewachsen. Er ist so leise.
    Ich werfe mich in seine Arme, so glücklich, dass er da ist. Immer noch Mensch werden kann. Freue mich über jeden Tag, an dem er in seinem langen Mantel aufrecht vor mir steht. Ich zupfe ihm ein Tannenzweiglein aus seinen Haaren. Küsse ihn, aber er küsst nicht zurück. Da erst sehe ich in seine Augen. Hat er wieder nicht geschlafen? War er doch wieder unterwegs? Sie sind noch röter als gestern. Er sagt nichts. Keine Begrüßung.
    «Was ist?», frage ich leise.
    Er schüttelt nur den Kopf. Schweigt weiter. Ich will die anderen fragen, Karr, Norrock, Sjöll, aber ich sehe sie nicht. Zähle die Wölfe. Lasse meine Augen durch das Unterholz wandern, über die geduckten Gestalten. Sie sind doch da. Sie sind Wolf. Nur Sjöll mit dem Ohrring kann ich nirgends entdecken. Sjöll, die Marie heißt und der ich einen Zettel schulde.
    «Wo ist Sjöll?»
    Falsche Frage. Einer der Wölfe, er sitzt neben einer riesigen Buche, heult. Laut, lang gezogen und qualvoll. Karr?
    «Thursen!»
    Thursen sieht ins Leere. «Sieh mich an!» Ich packe ihn an seinen Mantelärmeln und schüttle ihn. «Wo ist Sjöll!», schreie ich ihm mitten ins Gesicht. Endlich sieht er mich an. Er greift meine Hand. Sie zittert. Und dann zittere ich auch. Nicht, weil seine Hand so eiskalt ist. Sein Blick. So einen Blick habe ich schon mal gesehen. Im Krankenhaus. Damals hatten sie herausgefunden, was mit Fabian los war.
    «Nein!» Meine Stimme ist ein Keuchen. Dann schüttle ich den Kopf, dass die schwärzesten Gedanken rausfliegen und ich wieder klar denken kann. Ganz ruhig! Sjöll ist weg. Vermisst. Wir werden sie suchen. Sofort!
    «Wo habt ihr sie zuletzt gesehen?», frage ich.
    Thursen schweigt.
    «Jetzt rede doch endlich!», schreie ich. Er duckt sich. Ein dunkler Schatten wuchert über sein Gesicht. Ich weiß, was das heißt. Auf einmal verschwimmt sein Mantel, und es sieht aus, als sei er voller Haare. Schwarze Haare. Wolfshaare, die den Aufprall meiner Worte dämpfen sollen.
    Ich habe Angst. Nicht vor seinen wölfischen Fangzähnen. Angst, dass er sich verwandelt und mich hier allein stehen lässt. Ohne Antwort. Angst, dass ich ihm Angst mache.
    Langsam gehe ich ein paar Schritte zurück und setze mich auf den Boden. Ziehe meine Beine an und schlinge die Hände um die Knie. Sage nichts. Warte. Erstarre. Angst.
    «Wir waren jagen, letzte Nacht», sagt Thursen, so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Er steht da, mit dem Rücken zu mir. Die Hand an den Stamm eines jungen Baumes gelegt. Weiß er überhaupt noch, dass ich da bin?
    «Eine Rotte Wildschweine. Wir kreisten einen jungen Keiler ein, drängten ihn ab. Karr war schnell.»
    Sjöll, denke ich. Was ist mit Sjöll?
    «Plötzlich knallte es. Schüsse fielen. Ein Jäger hatte uns entdeckt. Wohl für wildernde Hunde gehalten. Wir anderen flohen. Nur Karr, so nah bei dem Keiler, war noch im Schussfeld.»
    Und dann ist da eine andere Stimme. Verweint, verquollen, durch die Nase. Karr. «Ich habe den Jäger nicht bemerkt! Klar hätte ich fliehen sollen. Aber ich war so abgelenkt. Fast hätte ich ganz allein unser Abendessen gejagt. Dachte, wie stolz sie auf mich wäre.»
    Thursen hat sich gefasst. Kommt zu mir, setzt sich neben mich und legt den Arm um mich. «Der Jäger zielte wieder. Sjöll hat es gesehen. Sprang zurück», er schluckt. «In die Schussbahn. Warf sich direkt vor Karr. Sie war sofort tot.»
    «Wo ist sie jetzt?»
    «Wir hatten sie ins Gebüsch gezerrt, damit der Jäger sie nicht findet. Als der Jäger weg war, haben wir sie geholt und begraben.»
    «Wo begraben?» Ich denke an Fabians Beerdigung, seinen hellen Sarg im Blumenmeer. Sjöll hatte bestimmt keinen Sarg. «Habt ihr sie im Wald verscharrt? Einfach so?»
    «Sie ist als Wolf gestorben, Luisa!», sagt Norrock. «Wo hätten wir sie denn beerdigen sollen, auf dem Hundefriedhof?»
    Ich springe auf. Schlage ihm nur darum nicht ins Gesicht, weil ich im letzten Moment erkenne, wie die Trauer um Sjöll in seinen Augen brennt.
    «Auf dem Selbstmörderfriedhof», sagt Thursen.
    «Sie hat sich nicht selbst umgebracht!»
    Thursen zerbricht einen Zweig in kleine Stücke, die er vor sich auf den Boden wirft. Ich sehe, wie seine Hände zittern. «Er heißt auch der Friedhof der Namenlosen. Er liegt ein Stück Havel-aufwärts mitten im Wald, ganz einsam. Dort werden schon lange

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