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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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recht.
    Ich drücke ihn, halte ihn ganz fest. Für immer und ewig. Er hebt die linke Hand, um mein Gesicht zu berühren. Stöhnt und kneift die Augen zu. Dann nimmt er die rechte und legt sie an meine Wange.
    «Was hast du?», frage ich.
    «Das ist nichts», sagt er. Sieht mir in die Augen, dass mein Gedanken auf einmal ganz langsam laufen. Kann Thursen wirklich machen, dass die Welt sich langsamer dreht? Nur durch einen Blick und eine Berührung? Ich hebe meine Hand und will sie auf seine legen, mich ganz in seiner Berührung verlieren.
    Irgendwas passt nicht. Moment mal! «Du bist Linkshänder. Wieso benutzt du auf einmal deine Rechte? Sjölls Namen hast du mit rechts geschnitzt!» Darum war es so mühsam für ihn. Da ist etwas an seinem Mantel. Oben am linken Arm, kurz unter der Schulter. Der Stoff ist beschädigt. Nicht abgeschabt oder gerissen. Es sieht aus wie ein Brandloch, aber größer.
    Ich habe meine Hand schon an der Stelle, bevor er den Arm wegziehen kann.
    «Nicht, Luisa!», zischt er. Vor Schmerzen?
    «Was ist mit deinem Arm, Thursen?»
    Als er nicht antwortet, sehe ich selbst nach. Schiebe ihm den Mantel von den Schultern. Vorsichtig. Aber nicht vorsichtig genug. Unter seinem Lächeln kann ich die zusammengebissenen Zähne sehen. Seine linke Hand, die er zur Faust ballt. Seinen Mantel lasse ich auf den Boden fallen, denn darunter sieht es viel schlimmer aus. Sein Shirt hat auch ein Loch, noch größer. Und der Rand ist dunkel und hart verkrustet. Diesmal muss ich es nicht anfassen, um zu wissen, was es ist. Das ist Blut. Thursens Blut.
    «Scheiße, Thursen!» Warum habe ich das nicht früher bemerkt? War ich so abgelenkt durch Sjölls Tod?
    Er dreht sich von mir weg, ehe ich die Wunde weiter untersuchen kann. «Das ist doch nichts!»
    «Thursen, du blutest!»
    Mit seiner gesunden Hand streicht er mir durch die Haare. «Nicht mehr. Hat doch schon aufgehört.»
    «Verdammt, sag mir sofort, wie das passiert ist!»
    Einen Moment sehe ich den Gedanken, mich anzulügen, in seinen Augen aufflackern. Mir eine nette, beruhigende Geschichte zu erzählen.
    «Wage es nicht, Thursen!», drohe ich.
    Seine Augenbrauen zucken, und sein Blick wird hart. Nein, er wird mich nicht schonen. Jetzt kommt die Wahrheit. «Ich habe Sjöll aus dem Schussfeld gezogen. Da hat der Jäger nochmal geschossen, und ich war nicht schnell genug.»
    Da ist plötzlich etwas Bitteres auf meiner Zunge. Ich muss schlucken, bevor ich sprechen kann. Ihn anschreien kann, wie er es verdient.
    «Noch ein Schuss? Du bist dem Kerl vor die Flinte gesprungen?»
    «Der hätte Sjöll ausgestopft, wenn er sie gekriegt hätte!»
    «Verdammt, wenn der Jäger dich woanders erwischt hätte, wärst du jetzt auch tot!»
    «Ich lebe doch noch! Alles gut!»
    Hinter uns lacht jemand. Ein tiefes, sarkastisches Lachen.
    «Das ist nicht komisch!» Ich drehe mich zu Norrock. «Seine Wunde. Warum verbindet das keiner?»
    «Vielleicht später», antwortet Norrock. Tauscht einen schnellen Blick mit Thursen.
    «Später?»
    Norrock klopft mir auf die Schulter. «Jetzt komm mal wieder runter. Das blutet doch gar nicht mehr.»
    Es blutet wirklich nicht mehr. Vielleicht war die Wunde nicht so tief. Vielleicht war das wirklich nur eine Schramme. Vielleicht wird jetzt alles gut.
    Thursen hebt seinen Mantel auf und schiebt seine Arme hinein. Zieht ihn mit der ungeschickten rechten Hand vorsichtig über die linke Schulter. Ohne meine Hilfe. Schließt ihn um sich wie einen Panzer. Ich wünschte, ich wäre es, die sehen darf, was hinter dem Panzer ist.
    «Können wir los?», fragt Norrock Thursen. Laut. Nicht flüsternd, wie bei ihrer Absprache eben. Jetzt darf ich den beiden wieder zuhören.
    Thursen nickt.
    «Los? Wohin?» Mein fragender Blick gleitet von einem zum anderen.
    Norrock lacht auf. «Jagen! Gestern hatten wir doch kein Glück.»
    Jagen? Plötzlich sind meine Lungen leer. Ich ersticke an dem Gedanken. «Nein!» ist alles, was ich herausbringe.
    «Ach, komm. Berlin hat eine Wildschweinplage! Da müssen wir doch was tun!»
    Es ist, als wollte man schreien, ohne vorher Luft zu holen. «Nein!», keuche ich. Nie will ich für Thursen das Wolfslied singen müssen.
    «He, ich habe Hunger!», sagt Norrock.
    «Sjöll», ich ringe nach Atem, «war Sjöll die Einzige? Die beim Jagen starb, meine ich?»
    Norrock zuckt die Schultern. «Wahrscheinlich nicht. Woher soll ich das wissen? Da musst du sie fragen.» Er zeigt auf die namenlosen Wölfe beim Lager. Jerro, Fath, Krestor.

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