Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Polizei Bremen von großem Wert» schwimmt an mir vorbei. Ist nicht wichtig. Nur das: Sjöll hat einen Namen. Niemand heißt Sjöll, hatsie mir gesagt. Natürlich nicht. Sie heißt Marie. Marie aus Bremen. Oder doch Sjöll? Für immer Sjöll? Hat sie schon endgültig aufgehört, Marie zu sein?
Vielleicht werde ich es irgendwann wissen. Aber wichtiger ist jetzt für mich: Der Zettel auf meinem Nachttisch, das ist ihrer. Ich stecke ihn in die Tasche meiner schwarzen Jeans. Ungelesen. Ich habe es versprochen. Einer Sjöll versprochen, die Marie heißt. Und die das wahrscheinlich gar nicht wissen will. Die viel lieber für immer ein Wolf wäre. Ob Karr sie vermisst, wenn sie nicht mehr Mensch ist? Keine Arme mehr da sind, die ihn tröstend halten? Oder kann sie ihn als Wolf viel besser trösten, weil ja auch er einer ist?
Ich weiß: Mich kann Thursen als Wolf nicht trösten. Ich bin süchtig nach der Berührung seiner Hände. Seinem Lächeln aus den grauen Augen.
Mit dem Gedanken an Thursen schlafe ich ein.
Mit dem Gedanken an Thursen wache ich auf.
Mit dem Gedanken an Thursen lasse ich beim Frühstück die Vorwürfe meiner Eltern über mich ergehen. Wie immer. Ich esse nicht, sagen sie, und ich bin zu viel weg.
Mit dem Gedanken an Thursen schwänze ich die Schule.
Heute ist einer dieser Tage, mit denen der graunasse Herbst sich tarnen will. An dem er wie ein letzter Zipfel Spätsommer daherkommt. Ich wandere über die Bürgersteige kopfsteingepflasterter Straßen in Tegel, im Nordwesten von Berlin, wo Thursens Schule liegt. Durch das herbstschüttere Laubdach der Straßenbäume blinzelt die Sonne vom Himmel. Eine alte Frau schiebt mir einen Buggy mit einem Kleinkind entgegen. Das kleine Mädchenlacht, dass seine Grübchen tanzen, und schwenkt in seiner Faust eine Tüte mit altem Brot. Entenbrot bestimmt, denn ein Stück weiter geht es hinunter zum Tegeler See. Ich bin nicht zum Entenfüttern gekommen. Ich suche ein Haus. Endlich lasse ich die vierstöckigen Gründerzeithäuser hinter mir und komme in die Gegenden, in denen die Einfamilienhäuser stehen. Stelle mir Thursen vor, wie er als kleiner Junge hier spielt. Fahrradfahren lernt. Herumtobt, stolpert, sich das Knie aufschlägt.
Es ist gar nicht leicht, mehr über ihn herauszufinden. Natürlich habe ich zuerst im Computer gesucht. Lovis-Corinth-Oberschule. Auf der Eingangsseite war neben der Adresse das Bild der Schule. Das Gebäude war ebenso rot geklinkert, ebenso eckig wie die Schule in Spandau. Auf der Internetseite von Thursens Schule waren keine Klassenfotos, die alt genug sind, dass er darauf abgebildet sein könnte. Trotzdem bin ich an der Schule. Stelle mir einen verträumten Augenblick lang vor, ich stünde vor dem Eingang, um auf ihn zu warten. Male mir aus, wie er lachend die Stufen herunterspringt, wenn er mich erkennt, den Schulrucksack lässig über der Schulter. Es riecht drinnen wirklich nach Bohnerwachs, und meine Schuhe lassen das Linoleum quietschen auf dem Weg zum Sekretariat. Vielleicht ist eins von den Bildern an den Wänden noch von ihm?
Ich will schon an die Tür klopfen, die Schulsekretärin ausfragen nach meinem wunderschönen, traurigen, verschollenen Thursen. Lasse die Hand doch noch sinken. Wonach soll ich fragen, wenn ich weder seinen Namen noch seinen Jahrgang weiß? Und so schließe ich einen Moment die Augen und atme ein wenig von Thursens Vergangenheit. Taste die Wände ab, über die seine Blicke gestreiftsind. Als es zur Pause läutet, flüchte ich rasch, ehe sich die Klassenzimmertüren öffnen und die fremden Schüler die Gänge überspülen. Es gibt hier nichts, was mir wirklich einen Hinweis auf Thursen geben könnte. Also muss ich wohl mit dem Foto vom Haus weitersuchen. Morgen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich so etwas wie Hunger. Ich kaufe mir in einem Bäckerladen um die Ecke etwas zu trinken und ein Brötchen. Frisch, knackig, duftend. Ich frage sogar nach dem Haus auf meinem Handy-Display, aber die Verkäuferin kennt es nicht. Ich nicke. Morgen habe ich vielleicht mehr Glück und frage die Richtige. Meine Zähne kauen das Brötchen, mein Hals schluckt, mein Magen bleibt ruhig. Ich esse ein Brötchen. Ein ganzes Brötchen. Ich bin mit mir zufrieden, als ich endlich in die Bahn südwärts steige.
Ich muss Sjöll ihren Zettel geben. Und ich muss Thursen sehen. Vor allem Thursen.
Im Wald treffe ich nur auf lauter Wölfe, keine Menschen. «Thursen?», rufe ich. «Sjöll? Karr? Norrock?»
Drehe mich
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