Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
damit die Trauer mich nicht wegspült. Jetzt auch noch Sjöll.
Ich krieche nach draußen. Jerro und Fath spielen mit einem Tannenzapfen. Jaulend und knurrend schubsen sie ihn mit dem Maul zwischen sich hin und her. Springen ihm nach. Wie zum Hohn strahlt die Sonne. Kann es nicht regnen? Kann der Himmel nicht mit uns trauern? Ein paar Regentränen weinen um Sjöll? Alles läuft weiter, als wäre nichts. Sjöll ist tot! Erst Fabian und nun Sjöll.
Thursen kommt aus der Höhle. Wird Mensch und streckt sich, als wenn er noch Wolf wäre. Ich räuspere mich, zwinge den Kloß in meinem Hals nach unten, um Platz für die Stimme zu haben. «Komm», sage ich zu Thursen. «Da ist noch etwas. Was wir für Sjöll tun sollten.»
Er nickt. Dann sieht er, dass ich wieder kurz davor bin, in Tränen auszubrechen. Vorsichtig streicht er mir die Haare zurück. Nimmt mein Gesicht in seine Hände, als sei es kostbar. «Lass uns gehen», sagt er leise.
Ich halte ihn an der Hand und führe ihn zu Fabians Baum. Meine Finger fahren die Narben in der Rinde entlang, die seinen Namen ergeben. «Kannst du so etwas auch für sie machen?», frage ich. «Sjöll hat ja auch keinen Grabstein.» Sjöll, nicht Marie. Als Sjöll ist sie gestorben. Als Wolf. Marie gab es schon lange nicht mehr.
Wir suchen einen Baum. Gerade, schlank und schön gewachsen. Einen Baum für Sjöll. Thursen sucht sein Messer und beginnt mit der Arbeit. Nein, Sjöll kommt auch diesmal nicht, um uns, die wir ihren Tod geglaubt haben, auszulachen. Unsere Arbeit mit ihrem hellen Lachen zu beenden, das wie Vogelzwitschern klingt. Klang. Sjöll ist tot. Thursens Faust schließt sich fest um den Messergriff,als er die Klinge durch die Rinde zieht. Ich liebe seine Hände. Schlank und doch mit so viel Kraft.
«Sie liebte die Jagd, weißt du?», flüstere ich.
«Ja», sagt er, den Blick auf das Holz gerichtet, «das hat ihr am Wolfsein am besten gefallen.»
«Und beim Jagen ist sie gestorben.» Ein schöner Tod. Gibt es schöne Tode? «Warum hat sie sich nicht zurückverwandelt, als sie starb?»
«Vielleicht wollte sie als Wolf sterben?» Er müht sich mit zusammengebissenen Zähnen bei einer Rundung in einem Buchstaben. «Vielleicht war sie lieber Wolf als Mensch?»
«Aber verwandelt man sich im Tod nicht automatisch zurück? Es steht in den alten Geschichten.»
«Vielleicht sind die alten Geschichten nicht wahr, sondern einfach nur alt?»
«Aber …», und das ist meine wichtigste Frage. Die, die diese Empörung in mir auslöst. Das Gefühl, betrogen worden zu sein. «Sjöll hätte doch gar nicht sterben dürfen! Glaubst du wirklich, so ein dummer Stadtjäger schießt mit Freikugeln auf streunende Hunde? Nur Silberkugeln töten Werwölfe.»
«Ach, das Ding mit dem Silber», seufzt Thursen.
«Genau!» Ich nicke.
«Das hat vielleicht noch zur Zeit der Vorderlader funktioniert. Heutzutage sind die Geschosse viel zu schnell.»
Thursen tritt einen Schritt zurück und betrachtet den Baum. Dann arbeitet er die Rundungen an Sjölls Namen noch einmal nach. Zupft etwas lose Rinde ab, sodass das helle Holz des Baumes darunter hindurchblitzt.
Norrock hat uns gefunden und kommt langsam zu uns herüber. Ich höre die Zweige unter seinen Füßen knacken,das Laub knistern, als er näher kommt. «Was wird das denn?»
«Sjölls Baum. So werden wir Sjöll nicht verlieren», sage ich zu beiden. Habe mich versprochen. Vergessen, habe ich gemeint. Obwohl, ist es nicht letztendlich das Gleiche?
Norrock verzieht das Gesicht. «Noch so ein Baum. Na, wenn ihr meint.»
«Weißt du was Neues?», fragt Thursen Norrock. Thursen ist fertig, säubert sein Messer an seinem langen Mantel, klappt es zu und steckt es ein.
Norrock sieht mich an, dann Thursen. Kommt einen Schritt näher. Stellt sich wie unabsichtlich direkt neben Thursen, neigt sich zu ihm, als wollte er den beschnitzten Baum aus seiner Perspektive betrachten. «Noch nicht», höre ich Norrock leise sagen. «Aber ich krieg es raus!» Dann murmelt er noch etwas wie «Sterben». Dämpft seine Stimme, damit ich nichts mitbekomme.
Thursen nickt. Bewegt kaum die Lippen. «Wer ist dabei?»
Norrock legt ihm die Hand auf die Schulter. «Alle! Das ist Wolfssache.»
«Gut.»
Thursen wendet sich mir wieder zu. Wischt die Härte aus seinem Gesicht und nimmt meine Hand. Zieht mich in seine Umarmung. Hält mich, als wollte er sich entschuldigen, dass Wolfssachen nichts für mich sind. Wolfssachen und Sterben.
Es ist nichts für mich. Er hat
Weitere Kostenlose Bücher