Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
keine Menschen mehr beerdigt. Wir haben sie unter einem überhängenden Busch begraben und Laub über die Stelle gestreut, damit es nicht auffällt. Glaub mir, sie ist nicht die Einzige, die dort ohne Grabstein beerdigt worden ist!»
«Zeigst du mir, wo?»
Thursen nickt. Steht auf. Wischt sich mit der Hand über die geschlossenen Augen und lässt dann seine Schultern hängen.
Seufzt. «Lass uns zu Sjölls Grab gehen.»
Bei seinen Worten schluchzt Karr auf. Verwandelt sich, als ich zu ihm hinsehe, zitternd in einen Wolf. Drückt sich an den Boden und winselt. Ganz allein. Keine Sjöll mehr, die ihn hält.
«Kommst du auch mit, Norrock?», frage ich.
Er schüttelt den Kopf. «Ich geh allein. Später.»
So nimmt Thursen meine Hand, und wir gehen. Seine Hand ist immer noch eisig. Ich kann sie mit meiner nicht genug wärmen. «Du musst nicht als Mensch gehen», sage ich.
Er lässt mich los. Gibt mir, statt danke zu sagen, einen Kuss auf die Wange. Dann verwandelt er sich. Seite an Seite trotten wir durch den Grunewald, zum Ufer der Havel und weiter bis zu der Stelle, wo der Fluss einen Knick macht. Thursen streckt die Nase in die Luft, schnuppert, als müsse er sich orientieren, und geht voraus, weg vom Weg, zwischen die Bäume.
Ich folge ihm auf Zickzackpfaden, bis wir vor einer verwitterten Mauer stehen, abgeschieden, kein Haus in der Nähe. Er zeigt mir den Eingang, und ich schiebe das Tor auf. Besuchszeit von 8 bis 20 Uhr steht auf einem Schild. Ich frage mich, wie die Wölfe letzte Nacht mit Sjöll hier hereingekommen sind. Stelle mir ein Rudel schwarzer Wölfe vor, die im Mondschein über die Mauer springen. Einer nach dem anderen, schnell und leise wie Dämonen der Nacht. Thursen stupst mich mit der Nase an, will weiter. Vorbei an efeuüberwachsenen Gräbern und bemoosten Steinen. Da ist sie, die Natur, die sich die Toten zurückholt. Wie lange schon hat hier niemand mehr Blumen hingelegt? Thursen geht voraus. Etwas abseits, fast schon an der Umfassungsmauer, steht breit ausladend eine Eibe. Und darunter erkenne ich, jetzt, wo ich danach suche, einen sanften Hügel. Efeu, der nur lose über die Erde gebreitet ist, Laub, mit frischer Erde durchmischt. Zu klein für ein Menschengrab. Und doch liegt hier Sjöll.
Ich kann es nicht glauben. Kann es einfach nicht. Warum klappt das Tor jetzt nicht, und Sjöll kommt? Tanztden Weg entlang und betrachtet die Grabsteine mit uns? Nein, wenn ich an Sjöll denke, stelle ich sie mir im Lager vor. Wenn wir zurückkommen, wird sie da sein, ganz bestimmt.
Ich belüge mich selbst. Sjöll ist hier. Liegt vor meinen Füßen in der Erde und ist tot.
Thursen schlingt mit einem Mal von hinten seine Arme um mich. Er hat sich in einen Menschen verwandelt, ohne dass ich es gemerkt habe. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und schließe einen Moment die Augen.
Sie könnte noch leben. Wenn sie nicht Sjöll geworden wäre. Marie K. aus Bremen hätte kein Jäger erschossen. «Warum hat sie bloß mit euch im Wald gelebt?», frage ich Thursen.
«Musst du das wissen?»
Ich habe eine ungeschriebenes Gesetz der Wölfe gebrochen. Dumm von mir. «Deine Probleme bleiben bei dir und meine bei mir, ich weiß. Hat sie mir auch gesagt.»
Thursen dreht an einer meiner Haarsträhnen, wickelt sie sich um den Finger und lässt sie als kleine Locke wieder heruntergleiten. Blickt mir über die Schulter in die Eibe vor uns. «Der Neue von ihrer Mutter hat gesoffen. Und dann hat er entweder geprügelt oder Sjöll begrapscht. Irgendwann hatte sie genug. Ist wohl einfach so aus dem Haus gerannt, hat sich vom nächsten Auto mitnehmen lassen und ist hierher nach Berlin.»
«Und wie habt ihr sie gefunden?»
«Gar nicht. Sie hat uns gefunden.»
«Im Wald?»
Er schnaubt leise. Kein echtes Lachen. «Nein, an der Wilmersdorfer Straße in der Fußgängerzone. Norrock war mit Krestor da und ich mit Rawuhn. Sie hat Norrock umeine von seinen selbstgedrehten Zigaretten angeschnorrt, hat sich zu uns gesetzt. Und als es Abend wurde, ist sie einfach bei uns geblieben.»
Meine Stimme ist vor Trauer ganz zerdrückt. «Und jetzt kommt sie nie wieder.»
«Komm her», murmelt er und dreht mich sanft zu sich um. Streicht über meine Wange, an der die Tränen herablaufen. Dann nimmt er mein Gesicht in beide Hände und küsst mich. Ich schließe die Augen, lege den Kopf zurück, als sein Mund meinen berührt. Der Kuss ist wie unser ganz eigenes Gespräch. Mit seinen weichen Lippen und doch ohne Worte sagt er
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