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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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das Umherschwimmen der Fische beobachtet. Nie mehr werde ich Teil einer Werwolfgeschichte sein. Was hinter dem Glas passiert, hat nichts mehr mit mir zu tun.
    Da war mal ein Thursen, der mir mehr bedeutet hat als die Welt. Jetzt ist er mit seinen Wäldern eins, und ich gehöre zur Stadt mit ihren grauen Betonfassaden. Meine Welt ist nicht mehr seine. Was dort gilt, kann hier nicht sein.
    Keine Werwölfe. Keine Erlösung nur durch ein Wort, durch das eine Wort, das eine, das ich nicht kenne. Thursens Name.
    Niemandes Namen kenne ich dort in der Welt zwischen den Stämmen. Karrs nicht und nicht Norrocks, nicht Jerros und nicht Lurnaks. Sie alle sind nicht wirklich da. Verschwimmen in meinen Gedanken zu Träumen. Nichts war jemals. Weg, alles.
    Ich bin so müde, dass meine Gedanken im Kopf sinnlos durcheinandertaumeln.
    «Passauf, Luisa!», schreit eine helle Kinderstimme. Lotti wirft mich aus meinem Tagtraum, fast schon vor unserem Hauseingang. Auf ihrem bunten Kinderfahrrad saust sie auf mich zu. Ihre Haare fliegen unter ihrem Helm hervor, ihre Augen hat sie vor Schreck aufgerissen. Angestrengt umklammert sie die Bremsen mit beiden Händen, ist dochzu schnell. Statt mich umzufahren, rutscht ihr Hinterrad zur Seite, und sie landet auf dem Boden. Liegt auf dem Bürgersteig, die Beine im Fahrradrahmen verheddert, ihr Schulranzen noch immer auf dem Rücken festgeschnallt. Liegt da, hilflos und schreckstumm.
    «Lotti!», rufe ich. Bin mit zwei Schritten bei ihr. Beuge mich hinunter zu ihr, schiebe ihr die kleinen Arme aus den Schulranzenträgern und ziehe dann das Fahrrad weg. Jetzt kann sie aufstehen. Mühsam wie ein kleiner Käfer, der auf dem Rücken gelandet ist, krabbelt sie auf die Beine. Sie heult. Schnieft, die Tränen lassen ihre Wangen glänzen.
    «Zeig mal», sage ich, nehme ihre kleine Hand, drehe sie um. Die Handfläche ist aufgeschürft. Und auch ihre Hose ist an den Knien schmutzig. Wahrscheinlich sehen die genauso aus.
    «Komm. Ich bringe dich in die Wohnung. Anja macht dir bestimmt ein Pflaster drauf.»
    «Luisa!», jammert Lotti. Nicht, weil es ihr so wehtut. «Guck mal!» Sie zeigt auf die Fahrradgabel. Der Lack ist an einer Stelle abgeschrammt bis aufs blanke Metall. Sie hat recht. Fahrräder können sich nicht selbst heilen. Da helfen keine Pflaster. Mit Pflastern kenne ich mich aus. Schließlich hatte ich mal einen kleinen Bruder. Einen, der gespielt und getobt hat und dem ich Pflaster auf fast jeden Teil seines Körpers kleben musste. Damals, in den glücklichen Zeiten, als einfache Pflaster noch alles wiedergutmachten. Lotti schnieft und schluchzt in das Taschentuch, das ich aus meiner Jackentasche gegraben habe. Seit Fabians Tod habe ich immer Taschentücher dabei. Die Tränen sind zu nah.
    Wir stellen das Fahrrad im Hof ab und gehen gemeinsam hoch zu Lottis Wohnung. Lotti klammert sich amGeländer fest, humpelt langsam Stufe um Stufe nach oben. Ich folge ihr mit ihrer Schultasche.
    Gemeinsam klingeln wir, und Anja öffnet die Tür. Der Geruch von Gebratenem kommt mir entgegen. Zwiebeln. Es zischelt, vielleicht hat sie eine Pfanne auf dem Herd?
    «Kommt rein», sagt Anja und hockt sich sofort vor Lotti auf den Boden. Besieht sich Lottis Hände und gibt ihr einen Kuss. Ich schließe die Tür hinter uns. Drehe mich wieder um. So müde. Ich trage Lottis Schulranzen hinüber zur Garderobe.
    «Wie siehst du denn aus?», keucht Anja.
    Ist es mit Lottis Schrammen doch schlimmer, als ich gedacht habe? «Lotti ist mit dem Fahrrad gestürzt», erkläre ich und stelle Lottis Schulranzen ab.
    «Nicht Lotti! Das sind nur kleine Kratzer.» Anja streichelt ihrer großen Tochter über die Wange. «Dich meine ich, Luisa. Was ist denn mit dir passiert?»
    «Mit mir?» Ratlos sehe ich an mir hinab. Die Hose, die Jacke, alles wie immer. Na gut, die Hose ist ein bisschen schmutzig und die Jacke auch. Immerhin habe ich im Wald geschlafen. Im Laub gekniet.
    «Lotti, geh dich waschen. Dann machen wir dir ein Pflaster drauf», kommandiert Anja. «Und du, Luisa, guck mal in den Spiegel.»
    Ich tue, was sie sagt. Neben der Garderobe hängt ein holzgerahmter Spiegel. Und dadrin ist ein Gesicht, das meinem ähnlich sieht. Irgendwie. Rotgeränderte, halbgeöffnete Augen in einem spitzen, blassen Gesicht. Die Haare hängen in Zotteln herab, in denen sich trockene Blätter und kleine Zweige verheddert haben. Und die Wangen? Offenbar habe ich die immer wiederkehrenden Tränen mit erdigen Händen weggewischt, denn meinGesicht ist

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