Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
lächelt mir zu.
Und ich versuche. Einen Bissen. Kauen. Schlucken. Noch einen. Es geht. Ich esse den ganzen Teller leer, auch wenn weniger darauf gelegen hat als auf Lottis. Ich hatte wohl tatsächlich Hunger. Ein winziges bisschen von der Leere in mir geht. Ich habe wieder ein Bein im Leben. Nicht beide Beine, aber wenigstens eins. Vielleicht geht das Leben doch weiter und löst sich nicht einfach auf in dunkle Wolken.
«Willst du nach dem Essen duschen?», fragt Anja. Setzt mir Lilli auf den Schoß, damit sie die Teller abräumen kann.
Klar will ich duschen. Und Haare waschen. Ich liebe sie. «Gerne», sage ich.
«Luisa hat wie ein Schrat ausgesehen», sagt Lotti zu ihrer Mutter. Und zu mir: «Ich kann dir gleich mein Schrat-Buch zeigen.»
«Gerne. Aber erst, wenn ich mich nicht mehr so schratig fühle.»
«Du hast Hausaufgaben, oder, Lotti?», mahnt Anja, als sie die kleinen Glasschalen mit Nachtisch verteilt. Es gibt rote Grütze. Sie riecht lecker, nach Frühling, Beet und wachsen. Ich löffele etwas davon. Versuche, meinen Mund mit dem Löffel zu treffen, obwohl Lilli nach meinem Arm grapscht und daran zieht. Lillis kleine Ärmchen sind überraschend kräftig. Bestimmt ist mein Gesicht jetzt rot getupft.
«Warte, ich nehme sie dir ab», sagt Anja. Steht auf und kommt zu mir um den Tisch herum. Lilli streckt ihrer Mama die Ärmchen entgegen. Auf halbem Weg stoppt Anja, weil es an der Tür schellt. Lilli quängelt. Anja geht öffnen.
Vom Flur her höre ich sie murmeln. Anja und einenMann. Moment mal! Die andere Stimme kenne ich auch. Das ist mein Vater.
«Ihre Tochter ist hier», sagt Anja.
Ich kann sie verstehen, weil sie sich schon wieder in unsere Richtung gedreht hat und zurück in die Küche kommt.
«Wie konntest du ihm alles erzählen!», fauche ich Anja an, als sie mir Lilli abnimmt. «Wie konntest du!»
«Ich habe nichts erzählt, Luisa!» Sie rückt Lilli auf ihrer Hüfte zurecht. «Deine Eltern haben dich gesucht. Dein Vater wollte schon zur Polizei gehen. Verstehst du nicht, sie haben sich furchtbare Sorgen gemacht! Du warst die ganze Nacht nicht zu Hause!»
«Und in der Schule war sie auch wieder nicht!», ergänzt mein Vater. Poltert hinter Anja in die Küche. Ich fahre vor Entsetzen hoch und stoße das Schälchen vom Tisch. Die rote Grütze ergießt sich über meine Hose. Sickert herab wie Blut. Dunkelrot und zäh wie das Blut an Thursens Arm. Als hätte der Jäger wieder geschossen. Wieder getroffen. Die Glasschale liegt zerbrochen am Boden.
«Du kommst jetzt sofort nach Hause!», sagt er. Vor Aufregung klingt seine Stimme ganz gequetscht.
Ja, das tue ich. Ich komme mit. Trete knirschend auf die rot verschmierten Scherben.
«Tut mir leid, Lotti», sage ich. Nehme meine Jacke vom Haken. Dann hat mein Vater mich aus der Wohnung gezerrt.
«Sie ist wieder da!», vermeldet mein Vater, als hätte er seine entlaufene Katze eigenhändig aus dem Kohlenkeller der Nachbarn befreit. Meine Mutter kommt, das Telefonnoch in der Hand, in den Flur gehastet. Will mich umarmen und stoppt, als sie meine verschmutzte, zerzauste Kleidung sieht. «O Gott, Luisa!», stöhnt sie. Ihre bereits ausgestreckten Arme fallen herab. «Was hast du jetzt schon wieder angestellt?» Ihre Augen werden feucht.
«Sie war unten», sagt mein Vater. Als würde das meine Kleidung erklären.
«Ich geh duschen», sage ich.
«Moment! Wir sind noch nicht fertig. Die Schule hat angerufen. Du warst nicht da.»
«Ja.» Ich unterdrücke ein Gähnen. Halte vorsichtshalber trotzdem die Hand vor den Mund.
«Was soll das heißen?»
«Ja, ich war nicht in der Schule. Hast du doch gesagt.»
«Und die ganze Nacht warst du auch weg!» Er packt mich an der Schulter. Rüttelt mich. «Willst du jetzt auch noch von der Schule fliegen? Meinst du nicht, dass wir langsam genug durchgemacht hätten?»
«Ich bin müde und dreckig, würde gerne duschen», nuschele ich. Schwanke etwas, als mein Vater mich loslässt.
«Jens, jetzt lass sie doch erst mal!», murmelt Mutter hinter ihrem Taschentuch.
«Du kümmerst dich ja nicht!», wirft Vater ihr vor. «Von dir aus kann hier alles zusammenbrechen. Weißt du, wie das in Luisas Schulakte aussieht, wenn sie einen Tadel nach dem anderen sammelt? Sie verbaut sich doch ihre ganze Zukunft!» Inzwischen sind wir alle im Wohnzimmer.
Meine Mutter schnieft: «Vielleicht ist das alles auch für sie zu viel!»
Mama, ich stehe hier vor dir! Rede nicht so, als sei ich nicht da!
«Sie soll zur Schule
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