Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
gehen», sagt Vater. «Regelmäßigmitarbeiten und Hausaufgaben machen. Da hat sie etwas, was sie ablenkt.»
«Ich will vielleicht nicht abgelenkt werden?», frage ich. Finde ein Zweiglein, das sich in meinem Pullover verhakt hat, und entferne es mit müden Fingern. «Vielleicht helft ihr mir lieber, meine Probleme zu lösen, statt mich abzulenken?»
«Es geht aber nicht immer nur um dich», sagt er. Seine Stimme wird immer lauter und sein Gesicht immer röter. «Darf ich nicht auch mal zu Hause über etwas Angenehmes reden? Nicht nur über die Sorgen, die deine Mutter und ich mit dir haben? Ich will endlich wieder normal leben, zum Sport gehen, in Urlaub fahren. Und du schaffst es nicht mal, regelmäßig zur Schule zu gehen. Alle gehen zur Schule, warum du nicht?»
«Alle haben vielleicht auch keinen toten Bruder?»
Es knallt, als die Hand meines Vaters in meinem Gesicht landet. Und mit dem Knall kommt der brennende Schmerz.
«Jens!», kreischt meine Mutter. «Jens, wie konntest du!»
«Du leidest doch genauso darunter. Warum sagst du nichts? Du hättest doch genauso gerne wieder ein ordentliches Leben!» Seine Hände werden Fäuste, die er mühsam nach unten zwingt. «Aber ich muss das wieder allein auskämpfen.»
«Manchmal habe ich einfach keine Kraft mehr.»
«Ich muss diese Kraft ja auch aufbringen. Weißt du, was das für einen Mann bedeutet, seinen einzigen Sohn gehen lassen zu müssen?»
Na, was bedeutet es?, denke ich und fühle meine brennend heiße Wange. Ich habe dich nicht einmal weinen sehen, Vater. Nicht ein einziges Mal.
«Mein Gott, Jens!», schluchzt meine Mutter.
«Sie soll sich nicht so gehenlassen. Schließlich geht das Leben weiter. Ich muss in meinem Job auch funktionieren und kann mir nicht erlauben, auszuflippen.»
«Funktionieren? Du vergräbst dich doch nur in deiner Arbeit, um bloß nichts an dich heranzulassen.» Sie zerknüllt ihr Papiertaschentuch und wirft es wütend auf den Couchtisch. Es macht nicht einmal das kleinste Geräusch. «Wissen deine neuen Kollegen eigentlich, dass du deinen Sohn verloren hast, Jens?»
«Privates interessiert bei uns niemanden. Wichtig ist, dass man seine Arbeit ordentlich erledigt.»
«Du hast es niemandem erzählt?» Meine Mutter zieht hörbar die Nase hoch. «Niemandem von unserem Sohn erzählt?»
«Jetzt nimm dich mal zusammen!» Mein Vater schiebt die Zeitschriften und Prospekte auf dem Couchtisch akkurat aufeinander. Nur das Taschentuch berührt er nicht. «Es ist doch so. Jeder muss für sich sehen, wie er zurechtkommt!»
«Für sich allein?» Sie sucht ein neues Taschentuch.
«Allein! Genau! Wer kümmert sich denn darum, dass ich mal etwas Freiraum bräuchte? Mich bei dem ganzen Stress mal erholen müsste? Niemand! Von dir bekomme ich jedenfalls nicht die geringste Unterstützung!»
«Ihr seid so kaputt, wisst ihr das?», murmele ich.
«Und weißt du was, Jens? Für mich ist das hier auch nicht gerade leicht. Vielleicht brauche ich auch mal Unterstützung?»
«Sag ich doch. Luisa soll endlich aufhören, sich nur um sich selbst zu kümmern und dir vielleicht mal –»
«Nicht von Luisa! Unterstützung von dir, Jens! Ein kleinesbisschen Hilfe und Verständnis. Aber das ist wohl zu viel verlangt.»
«Verena, jetzt bleib mal auf dem Teppich. Du weißt doch, dass ich auf meiner neuen Arbeitsstelle –»
«Natürlich, Jens, jetzt redest du dich wieder raus.» Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Couchtisch. «Aber das sage ich dir, das mit dem Makler kannst du vergessen. Ruf ihn an!» Mutter spuckt mit ihren Worten kleine Speicheltröpfchen nach ihm. Sie greift einen buntbebilderten Prospekt vom Couchtisch. Wirft ihn meinem Vater vor die Füße wie einen Fehdehandschuh. «Den brauchen wir wohl erst mal nicht. Denn so ziehe ich mit dir nicht wieder in ein Haus!»
Ich kann fast hören, wie in meinem Vater die eisernen Gitter herunterrasseln. Sein Gesicht wird ausdruckslos. Er dreht sich um und geht. Das Knallen der Wohnungstür kommt fast zeitgleich mit dem Knallen der Schlafzimmertür, als meine Mutter sich einschließt. Dann bin ich im Wohnzimmer allein. Die plötzliche Stille verstopft meine Ohren. Ich öffne das Fenster, um etwas Lärm, etwas Leben von draußen hereinzulassen.
Ich hebe den Maklerprospekt auf. Ich wusste gar nicht, dass meine Eltern doch wieder ein Haus wollten. Was für ein Haus es wohl diesmal gewesen wäre? Ich blättere in dem Prospekt. Dieser Makler hätte bestimmt nichts für sie gehabt. Der
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