Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
voll graubrauner Schlieren. Langsam schäle ich mich aus meiner Jacke.
«Ich wasch mir wohl auch mal das Gesicht», sage ich. «Und kämme mir die Haare.» Ich merke, dass meine Stimme irgendwie rauer geworden ist.
«Du hast wieder geweint, nicht?», fragt Anja. Ihr Gesicht taucht neben meinem im Spiegel auf. Frisch, rosig, zart geschminkt. Sie trägt eine Kette aus bunten Steinen.
«Ja.» Ich nicke. Ganz ruhig. Keine neuen Tränen kommen. Es stimmt wirklich, was ich immer vermutet habe. Es gibt wirklich einen Punkt, an dem man einfach leer geweint ist. Ich bin eine Hülle, ausgewaschen von Trauer und Verlust, ganz hohl. In mir ist Wüste.
Anja legt mir ihren Arm um die Schultern. Den Mutterarm, der eben noch Lotti getröstet hat. «Dein Freund?», will sie wissen.
«Mhm. Ja.» Ich stehe vor dem Spiegel und ziehe mir ein Stück Buchenblatt aus den Haaren.
«Er hat also doch Schluss gemacht», sagt sie.
«Nein. Das war ich.» Ich entferne ein nadelloses Tannenzweiglein. Das Stück hat sich so fest verhakt, dass ich daran reißen muss. Als ich es heraushabe, hängen meine Haare daran wie Spinnenfäden. «Ich habe Schluss gemacht.»
«Du? Ich dachte –»
Ich schüttle den Kopf. Drehe mich endlich zu ihr um. «Das habe ich auch gedacht. Ich dachte, ich kann es ohne ihn nicht aushalten. Aber noch weniger aushalten kann ich diese verdammte Angst um ihn. Das bringt mich echt um. Da bin ich abgehauen.» Feigling. Schon wieder.
«So schlimm? Was macht er denn, das dir solche Angst macht?»
Was soll ich sagen? Etwa so was wie: Er jagt im Revier des Jägers. Als struppiger, zottiger Wolf, der wie ein streunender Hund aussieht, den man einfach so abknallen darf? O Gott, es hat so wenig mit unserer Welt der Computerspiele und Einbauküchen zu tun. Wie soll ich Anja Dinge erklären, die sie sich nicht einmal vorstellen kann? Wie soll sie je verstehen, dass er, Thursen, nicht mehr nur Mensch ist. Dass er beides ist, Mensch und Wolf?
«Gefährlicher Sport?», fragt sie. Und als ich immer noch nicht antworte: «Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst.»
«Doch, ist schon okay. Nein, Sport ist das, was er macht, bestimmt nicht.»
«Etwa was Kriminelles? Autoknacken? Einbrüche?»
«Anja!»
«Luisa, versteh mich jetzt nicht falsch. Ich mach mir nur Sorgen. Warst du letzte Nacht überhaupt zu Hause? Du siehst total fertig aus. Bist du da in irgendwas verwickelt? Was zum Teufel macht dein Freund?»
«So etwas jedenfalls nicht.» Obwohl: Weiß ich, was er gemacht hat, bevor er Wolf wurde? Nichts weiß ich über ihn, gar nichts.
Anja legt mir ihre Hand auf die Schulter. «Und du kannst nichts tun?», fragt sie leise.
«Nein», sage ich.
Das Zischeln wird lauter, und in den Zwiebelgeruch mischt sich die bittere Schärfe von Angebranntem. «Ich muss in die Küche», sagt Anja.
Und ich muss ins Bad, mein Gesicht waschen. Der Nachhall von Anjas Frage hängt in meinem Kopf fest. Kannst du nichts machen?
Könnte ich. Wenn ich verrückt genug wäre, einem Zettelzu glauben. Einem alten, abgewetzten Stück Papier, das Sjöll mir gegeben hat. Dann würde ich Thursens Namen herausfinden, seinen wahren Namen, und ihn damit rufen. Und er wäre nicht nur erlöst für alle Zeit, er wäre mir auch noch ewig dankbar dafür.
Ich hasse alte Legenden.
Wenn das mit den Freikugeln gestimmt hätte, wäre Sjöll noch am Leben.
Ich bin so müde.
So müde.
An der Tür zum Bad empfängt mich Lotti. Ein Pflaster über der Hand, und am Knie, unter der frischen Hose, hat sie wohl auch eins.
«Isst du mit, Luisa?», fragt sie. «Bitte!»
Ich brauche nicht zu antworten. Als ich mir die Erdschlieren vom Gesicht gewaschen und den Wolfswald aus den Haaren gebürstet habe, hat Anja schon für mich mit gedeckt. Wir sitzen in der Küche am großen, hölzernen Tisch, an dem wir bei meinem letzten Besuch Plätzchen gebacken haben. Lilli sitzt bei Anja auf dem Schoß und guckt zu. Ich muss neben Lotti sitzen, sie besteht darauf.
«Willst du eine Bulette?», fragt sie, wartet die Antwort nicht ab und legt mir mit spitzen Fingern eine Frikadelle auf den Teller.
«Lotti!», mahnt Anja.
Ich lächle. Nicht so schlimm. Aber das Gemüse nehme ich mir doch lieber selbst mit dem Löffel. Einen Moment lang starre ich ratlos auf meinen Teller. Ein hübscher Teller mit einem blauen Rand. Soll ich das, was darauf liegt, wirklich in meinen Mund schieben? Messer und Gabel sind so kalt in meinen Händen.
«Versuch es einfach», sagt Anja und
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