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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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bricht. Es tut so weh. Thursen aufgeben tut weh, als würde einem die Brust in zwei Hälften gerissen, das Herz mittendurch.
    Ob mein verwundetes Herz noch bis zu Hause durchhält, ehe es aufhört zu schlagen?
    Wahrscheinlich. Man stirbt nie einfach so, wenn man es gerne hätte. Man wird nicht einmal ohnmächtig. So barmherzig ist das Leben nicht. Ich werde auch diesen Schmerz durchleben bis zum Ende.
     
    Ich sitze in der S-Bahn . Unendlich lang wie ein Lindwurm schlängelt sie sich. Rüttelt, schüttelt mich, als wollte sie mich verdauen. Soll sie doch. Verdammt. Ich habe nie daran gedacht, dass Lurnak, Fath, Jerro, Krestor und Rawuhn nur die paar Übriggebliebenen eines riesigen Rudels sein könnten. Die paar, die nicht umgekommen sind.
    Warum gab es in Deutschland so lange keine Wölfe?
    Weil jeder Wolf, der über die Grenzen nach Deutschland kam, erschossen wurde. Jeder. Und die, die die Jäger nicht erwischt haben, wurden überfahren. Tot sind sie alle.
    Ich sehe vor dem Fenster die Bäume vorbeiziehen, die Häuser und denke an Sjöll. Die nie mehr jagen wird. Und nie mehr einen anderen Werwolf finden wird, dem sie ihren Zettel geben kann. Den Zettel, den ich immer noch tausendfach gefaltet in meiner Hosentasche trage. Jetzt, nach ihrem Tod, darf ich ihn lesen.
    Ich hole ihn heraus und falte ihn auf. Es ist ihr Zettel, aber nicht von ihr geschrieben. Das hier ist eckige Jungenschrift. Schwarze Tinte auf fleckigem Papier. Woher sie den Zettel wohl hat? Ich werde es nie erfahren. Kann sie nie mehr fragen. Meine Augen brennen. Es dauert eine Weile, bis ich lesen kann. Das lesen kann, was noch übrig ist von der abgescheuerten Schrift. Ich lese und staune. Denn das, was den anderen Angst gemacht hätte, was Sjöll so wichtig war, dass sie es nur einem besonderen Werwolf geben wollte, ist ein Gedicht.

ZEHN
    Hans Unterberg
     
    Im tiefen Wald, im Försterhaus
    Besucht Hans Unterberg Marie.
    Die Eltern sind heut lange aus,
    Da sitzt Marie auf Hansens Knie.
     
    «Marie», spricht er, «es ist so weit,
    Und ist’s mit dir auch noch so schön,
    Für mich ist heimzugehn nun Zeit,
    Die Sonne wird gleich untergehn.»
     
    Schon ist die Sonn nicht mehr zu sehn,
    Der Hans will fort, Marie, die lacht:
    «Bald wird der Mond am Himmel stehn,
    Sag, fürchtest du dich denn bei Nacht?»
     
    «Vollmond ist heute, weißt du’s nicht?
    Drum bleib, Marie, heut Nacht im Haus.
    Verwunschen ist’s im Vollmondlicht,
    Versprich’s mir, geh heut Nacht nicht aus!»
     
    «Ach, Hans, willst du nicht bei mir sein?
    Sieh doch, der Mond geht eben auf!»
    Hansen erbleicht, dann ächzt er «Nein!»,
    Flieht aus dem Haus in schnellem Lauf.
     
    Zu spät! Schon heult’s im Mondlicht grell,
    Im Walde geht ein graus’ger Klang.
    Marie steht zögernd auf der Schwell’,
    Es um ihren Hans ihr bang.
     
    Vergessen, was sie Hans gelobt,
    Marie reißt sich ohn’ Zaudern los.
    Die Furcht in ihrem Herzen tobt,
    Ein Wolf steht da, wild, schwarz und groß.
     
    Ein wilder Schreck Marie durchfährt,
    «Hans Unterberg, wo bist du nur?»
    Da stürzt das Ungetüm zur Erd’
    Und wandelt sich zur Mensch-Natur.
     
    Seht: Da liegt Hans! Kommt auf die Knie,
    Marie bleibt schier der Atem stehn.
    «Bei meiner Treu! Ich bin’s, Marie!
    Ich bin erlöst, werd nimmer gehn.
     
    Bei Vollmond musst’ ich Werwolf sein,
    Doch du riefst mich mit Namen an.
    Beendet ist nun meine Pein,
    Hast mich befreit von diesem Bann!»
     
    Ein Gedicht! Bestimmt ist das hier wieder eine von den Geschichten, die davon nicht wahrer werden, dass sie alt sind. Dass sie immer wieder abgeschrieben und weitergereicht werden im Verborgenen, als großes Geheimnis der Werwölfe. Bestimmt ist es mit diesem Gedicht genau wie mit der Geschichte von den Freikugeln. Nur Freikugeln töten Werwölfe, heißt es. Sjöll wurde von einer ganz gewöhnlichen Kugel getroffen und ist trotzdem tot. Und hier in dieser gereimten Geschichte wird also ein Werwolf erlöst dadurch, dass jemand seinen Namen ausspricht. Alle leben glücklich und zufrieden, und der Werwolf ist froh, dass er keiner mehr sein muss.
     
    Ich falte den Zettel wieder zusammen und schiebe ihn zurück in meine Tasche. Komm, sage ich mir, schließe das Märchenbuch voller Gedichte und Geschichten und kehr zurück in die Wirklichkeit! Wie soll ein Name, ein bloßer Name, wie er zu Tausenden in jedem Telefonbuch steht, jemanden erlösen?
    Und außerdem, was geht es mich noch an? Ich bin draußen. Wie jemand, der vor einem Aquarium steht und

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