Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Die keinem mehr antworten.
«Wir jagen!», sagt jetzt auch Thursen. «Das haben wir immer getan!»
«Wenn du jetzt jagst, dann gehe ich. Das ertrage ich nicht, hier zu sitzen und nicht zu wissen, ob du wiederkommst oder nicht!»
«Luisa, bitte! Mach es nicht so schwer für uns.»
«Ich meine es ernst, Thursen!»
Es dauert einen Moment, bis er antwortet. «Dann musst du gehen.»
«Und genau das tue ich! Und zwar für immer! Ich will nicht wissen, wenn du stirbst. Ich will nicht hören, dass du der Nächste bist, den der Jäger erwischt hat. Ich will jetzt einfach gehen!»
«Luisa, wenn du gehst, sehen wir uns doch auch nicht wieder!»
«Ja. Aber der Unterschied ist: Jetzt sehe ich dich nicht wieder, weil ich dich verlassen habe. Nicht, weil du tot bist. Wenn ich jetzt gehe, dann kann ich wütend sein, weil du kein Mensch bist. Ich kann denken, du bist heil von der Jagd zurückgekommen, rennst als Wolf durch den Wald und vergisst mich einfach. Das kann ich noch ertragen. Aber ich will nicht wissen, dass du da irgendwo vergraben liegst, kalt und tot, und die Würmer dich fressen! Meine Grenze. Hier ist sie. Genau hier.»
Ich laufe. Schnelle Schritte, will mich selbst überlisten, damit ich nicht stehen bleibe. Damit ich mich nicht umdrehe und Thursen heulend in die Arme werfe. Und doch nichts ändere damit.
Ein Rascheln hinter mir. Thursen kommt mir nach, geschmeidig und lautlos. Hält mich einen Atemzug später in seinen Armen.
Ich hoffe, dass er seine Meinung geändert hat, aber er hat es nicht. Lehnt seine Stirn gegen meine. «Komm wieder!», sagt er nur.
«Bleib du hier», flüstere ich, schiebe ihn von mir und sehe ihm in die Augen.
Er schüttelt den Kopf. «Dann gehe ich morgen. Was macht das für einen Unterschied?» Seine Hand reibt meine linke Schulter. «Ich bin ein Werwolf! Ich muss tun, was Wölfe tun. Das hast du gewusst. Du wusstest, wie wir leben. Akzeptiere mich so.»
«Nein, Thursen.»
«Du willst diesmal wirklich gehen?»
«Ja.»
«Und nicht wiederkommen?»
Ich schüttle den Kopf. «Das ertrage ich nicht.»
Er nickt. Streicht mir über die Wange. «Egal, wo du sein wirst, ich passe auf dich auf.»
Ich schiebe seine Hand weg. Will mich wegdrehen. «Nicht, wenn du tot bist!»
Er greift nach mir und hält mich fest. «Luisa, was erwartest du von mir? Ich kann nicht einfach aufhören, Werwolf zu sein. Ich kann nicht! Dazu ist es zu spät!»
Ich schüttle ihn ab. Endgültig. «Verstehst du nicht? Ich habe Grenzen. Da genau sind sie! Ende!» Ich schiebe seine Hand weg, die nach mir greift, mich an sich ziehen will. «Nein, küss mich nicht! Fass mich nicht an! Denn sonst breche ich hier schon zusammen.» Einen Schritt mache ich rückwärts als Sicherheitsabstand. Dann noch einen. Mir wird schwindelig, und irgendwas rauscht in meinen Ohren. «Lass mich einfach gehen, okay?»
«Luisa!», flüstert er. Hilflos steht er da. Seine Arme hängen herab, die leeren Hände öffnen sich, versuchen das Nichts zu greifen.
Wir beide wissen, ich werde jetzt gehen und nie mehr zurückkommen. Noch einmal will ich mir alles genaumerken, für alle Zeit. Seine krähengrauen Haarsträhnen, an denen der Wind spielt, die er nach vorne weht vor sein schmales Gesicht. Der schwarze Mantel, offen hängt er über seine Schultern bis zu den Waden herab. Die schlanken, langen Beine in den dunklen Hosen. Obwohl Thursen die Füße fest auf dem Boden hat, sieht er aus, als hätte er den Halt verloren, genau wie ich. Es spiegelt sich in seinen bleigrauen Augen. Die tiefe Trauer und Enttäuschung darin kann ich nicht einen Moment länger ertragen.
«Ach, Luisa», stöhnt er.
Ich kann nicht zu ihm. Kann es einfach nicht. Kann ihn nicht in den Arm nehmen, sagen, alles wird gut. Und dabei wird gar nichts gut. Fabians Tod. Sjölls Tod. Alles beginnt mit Thursen nur noch einmal von vorn. Und auf der wunden Seele schmerzt es noch schlimmer.
Es gibt ja doch kein Leben für mich und Thursen. Keine gestohlene Zeit zusammen, bis er endgültig ein glücklicher Wolf wird. Alles Unsinn. Ich will niemanden mehr verlieren müssen.
Thursen lässt sich zu Boden sinken. Einen Atemzug lang kauert er da, das Gesicht in den Händen, ehe er sich nach vorn auf den Boden stützt. Dann wächst der dunkle Schatten an ihm hoch und deckt ihn mit Fell zu. Ein Blick noch, dann wendet sich der Thursen-Wolf von mir ab und folgt Norrock mit langen Sätzen in den Wald. Zum Tanz mit dem Tod.
Jetzt weiß ich, warum man sagt, dass einem das Herz
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