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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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fernhalten, und Fabi gibt es nicht mehr.
    Wem soll ich davon erzählen, bevor ich überfließe?
    Fabis Baum. Wenigstens dem Baum kann ich erzählen, was ich herausgefunden habe. Meine Zweifel seiner Rinde mitteilen, in seine Äste senden und hoffen, dass er meine Gedanken zu Fabi schickt, wo auch immer er jetzt ist.
    Und so kaufe ich Blumen. Streife unter den Augen der Verkäuferin durch den kleinen Blumenladen, habe den feuchten, grünkühlen Geruch in der Nase und wähle aus. Rote Blumen? Blaue? Weiße Rosen vielleicht? Lasse mir Zeit, denn die habe ich im Überfluss. Schließlich entscheide ich mich für Chrysanthemen. Vielstrahlige Blüten in einem feurigen Herbstton zwischen Gelb und Rot. Ein dicker Strauß, denn er muss auch für Sjöll reichen. Zwei Bäume gibt es jetzt im Wald. Zwei Trauerstellen.
    Zum ersten Mal seit langer Zeit gehe ich wieder in den Wald, um allein zu sein. Ich will niemanden treffen. Vor allem nicht Thursen. Ich würde es nicht ertragen, ihn zu sehen, nur um ihn wieder gehen lassen zu müssen. Ziellos streife ich umher, sehe auf meine Uhr und warte, dass die Zeit vergeht. Warte auf den Sonnenuntergang, die einsetzende Dämmerung, denn dann machen sich die Wölfe auf zur Jagd. Dann gehört der Platz bei den Bäumen mir allein. Dann muss ich nicht Thursen in die Augen sehen, wissen,dass er geht, und vor Angst ein Stück sterben. Erst als sich die Sonne glutrot in den Wannsee stürzt, mache ich mich auf zu den Trauerbäumen.
    Zuerst besuche ich den Baum von Fabi. Eine Weile stehe ich da und erzähle in Gedanken von der Spur, die ich heute gefunden habe. Lege meine Hand an die Rinde. Die Hälfte der Chrysanthemen für meinen Bruder. Sie riechen ein bisschen streng und herbstkalt. Ich lege sie vor seinen Baum, ausgebreitet wie einen Fächer.
    Dann zu Sjöll. Zum ersten Mal auch zu Sjöll. Ich stehe da, mit den restlichen Blumen in der Hand. Gehe ganz nah heran an Sjölls Baum. Die Schnitte in der Rinde, die Thursen mit seinem Messer gezogen hat, sind nicht mehr frisch. Duften nicht mehr nach Baumsaft. Weißt du, ich habe deinen Zettel gelesen, will ich Sjöll sagen. Ich kenne jetzt euer Geheimnis. Ich danke dir. Doch es fühlt sich komisch an, so anders als bei Fabis Baum. Ich fühle mich ganz allein. Sjöll, die Erinnerung an Sjöll, ist nicht hier. Es ist, als sei sie irgendwo im Wald unterwegs. Als sei sie gar nicht tot. Denn wie kann sie tot sein? Ich begreife es nicht, in meinem Kopf ist kein Bild einer toten Sjöll. Nicht mal das einer kranken Sjöll. Nicht so wie bei Fabi. Vielleicht kann der Baum mit Sjölls Namen mich deshalb nicht verstehen.
    «Wo bist du, Sjöll?», hauche ich und streiche über ihren Namen in der Rinde. Schließe die Augen. Erinnere mich an sie. Wie sie dagesessen hat mit den anderen. Mit ihnen Karten gespielt hat im Licht ihrer Kerze. In Gedanken höre ich Sjölls helles Vogellachen.
     
    Stimmen. Da sind plötzlich Stimmen hinter mir. Wirklich. Real.
     
    Im Wolfslager ist jemand.
    Nein!
    Ich drehe mich um. Reiße im selben Moment die Augen auf. Sie sind zurückgekommen! Sie sitzen alle dort in der Senke, wo sie immer sitzen. Norrock und Thursen und noch jemand, ein Mädchen. Die struppigen Wölfe umlagern sie. Thursens und Norrocks Hände bewegen sich, sie reden auf das Mädchen ein. Sjöll? Ist es Sjöll? Haben sie sie wiedergefunden? Sitzt da tatsächlich Sjöll?
    Ich lasse die Blumen fallen. Achtlos. Knisternd rutschen sie ins Laub.
    Ohne nachzudenken, stolpere ich näher. Sjöll?
    Ist sie doch nicht tot?
    «Sjöll!», rufe ich.
    Da drehen sie mir die Köpfe zu. Auch das Mädchen. Ein fremdes Gesicht schaut mich an und gleich wieder weg. Das ist nicht Sjöll. Sie hat keine schwarzen Locken. Mittelbraun und glatt sind ihre Haare. Sie sitzt da, zusammengekrümmt auf dem Boden. Trägt einen viel zu großen Pullover mit überlangen Ärmeln und hat die Arme um den Körper geschlungen. Schaukelt mit gesenktem Kopf auf den Füßen vor und zurück, als wollte sie sich selbst in eine andere Welt wiegen.
    Was tut dies fremde Mädchen bei meinen Wölfen?
    «Was soll das?», rufe ich. «Wer ist das?»
    Rawuhn und Krestor springen mir entgegen. Gesträubtes Fell. Wollen mich wohl stoppen. Ich beachte sie nicht. Sie müssten mich schon beißen, mich an meiner Jacke packen und festhalten. Aber das tun sie nicht. Sie laufen stumm neben mir her.
    Meine Stimme wird eine Waffe, scharf und schneidend. Ich will endlich Antworten! «Was macht die hier?»
    Norrock steht auf, stellt

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