Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
so ein Mädchen mit einem Schulprojekt wartet.
«Ja, gut», seufzt sie und endlich, nach gefühlten tausend Jahren, darf ich hinein.
Ich erzähle dem fremden Mann im Anzug, an seiner Tür steht Hartwig, meine Geschichte. Flunkere, jeder sollte über die Bebauung eines der Berliner Bezirke schreiben, und meine Gruppe hätte Reinickendorf erwischt. Mit aufgesetztem Lächeln erzählt er über die herausragende Wohnqualität seines Reviers. Holt schließlich Luft. «Haben Sie sonst noch Fragen?», sagter, und sein Blick wandert schon wieder zu seinem Computerbildschirm hinüber.
Ich schiebe ihm mein Foto über den Schreibtisch. «Kennen Sie das Haus?», frage ich.
Ja, er kann sich an so ein Haus erinnern. «Im Waldeichensteig.» Er zuckt die Schultern. «Steht aber nicht mehr. Das ist vor zwei Jahren abgerissen worden.»
Abgerissen! Weg!
«Auf dem Grundstück stehen jetzt vier Doppelhaushälften.» Der Makler bemerkt meine Verzweiflung nicht. «Vier Doppelhaushälften, das muss man sich mal vorstellen! Diese Gewinnspanne! Und wir haben das Projekt nicht bekommen. Hat uns ein Kollege doch den Kuchen direkt vor der Nase weggeschnappt!»
Ich schlucke meine Enttäuschung hinunter. «Wie heißt der Kollege?», frage ich. Eine kleine Hoffnung, dass dieser Kollege den Namen der Leute in dem Haus noch weiß. Nur den Namen. Einen kleinen Anhaltspunkt. Etwas, von wo aus ich weitersuchen kann.
«Möller», knirscht der Makler zwischen den Zähnen hervor. Es hört sich fast wie «Mörder» an. «Und jetzt sagen Sie mir doch mal, was das mit dem Foto sollte. Ist das ein Test oder was? Hat da mal ein Künstler gewohnt oder ein Nazi-Opfer, und Sie wollten wissen, ob mir das bekannt ist?»
Wie ist der denn drauf? Hat er sie noch alle? «Ja, das war ein anonymer Test», sage ich und stehe auf. Lächle ebenso verlogen wie er. «Und Sie haben bestanden. Vielen Dank, Sie hören von mir.»
Auch das Maklerbüro Möller steht auf meiner Liste. Ich frage mich zu der Adresse durch. Vor dem Haus ist ein Gerüst aufgebaut, und das Gebäude ist in Folie eingewickelt wie in eine Mülltüte. Die Haustür steht offen und von drinnen kann man kreischende Maschinen hören. Bohrer,Schleifmaschinen. Weißer Staub schwebt in der Luft, sinkt herab auf breite Pappstreifen, die die Gänge und die Treppenstufen bedecken. Ich frage einen der Männer in weißen Anzügen, die sich an den Wänden zu schaffen machen, nach dem Büro von Makler Möller. Er zeigt mit dem Daumen die Treppe hinauf, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Dritter Stock. Ohne Fahrstuhl. Ich steige nach oben. Hinterlasse weiße Fußstapfen im Schleifstaub auf der Treppe. Die Tür zum Büro ist nur angelehnt. Mit einem Ruck stoße ich sie auf. Diesmal bin ich nicht geduldig. Diesmal werde ich nicht endlos im Vorzimmer warten. Lasse die überraschte Empfangssekretärin einfach stehen und marschiere, ohne ihren Einwänden zuzuhören, durch die Bürotür von Herrn Möller. Halte erst direkt vor seinem Schreibtisch an.
«Sie haben damals das Grundstück im Waldeichensteig vermittelt», sage ich statt einer Begrüßung.
Herr Möller macht anscheinend gerade Pause. Kaut, schluckt, verschluckt sich fast an seinem Wurstbrot. Weiß nicht, was er mit mir anfangen soll. Ich setze mich ihm gegenüber und murmele wieder etwas von einem Schulprojekt. Was auch erklären würde, warum ich so früh am Tag nicht in der Schule bin. Was nicht erklärt, warum ich gerade und nur nach diesem Haus frage.
Trotzdem. «Wissen Sie noch, wer in dem Haus wohnte?», frage ich.
«Natürlich», sagt er und lässt den letzten Wurstbrotbissen in seinem Mund verschwinden.
«Ich schreibe etwas über die Familie, die in diesem Haus gelebt hat.» Und ich improvisiere weiter: «Wissen Sie, dass die ganz eng mit Bertolt Brecht verwandt waren?»
Der Makler guckt ungläubig, schüttelt den Kopf, während er sich seine Hände an einem Papiertuch abwischt. Dann steht er auf, sucht kurz, zieht dann einen breiten Ordner aus dem Aktenschrank. Klappt ihn auf. Mein Herz klopft schneller. Ich fühle, wie meine Hände feucht werden, und reibe sie verstohlen an meiner Hose. Gleich werde ich Thursens Nachnamen erfahren. Thursens wahren Nachnamen. Seinen halben Namen. Und mit dem ganzen Namen könnte ich ihn erlösen. Wenn der Zettel nicht lügt.
Los, sprich!
«Namen darf ich dir natürlich nicht sagen, aber …»
Kein Name. Kurz überlege ich, dem Makler den Ordner aus der Hand zu reißen und damit aus der Tür zu rennen.
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