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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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Wie lange er wohl bräuchte, um mich einzuholen?
    «…   das war keine Familie. Das war eine alte Dame, die ins Altenheim gegangen ist», redet er schon weiter. Ich fühle mich, als sei ich vom Weg abgekommen und in Morast geraten. Morast, in dem ich versinke, immer tiefer. Doch meine Hoffnung will sich noch nicht geschlagen geben, rudert, strampelt mit den Beinen und findet schließlich neuen Boden unter den Füßen.
    Vielleicht hat das Foto mit mir zu tun, hat Thursen gesagt. Vielleicht ist es das Bild von ihrem Umzug ins Altenheim. Daher der große Karton. Vielleicht war die Dame Thursens Großmutter?
    «Sie hatte keine Erben», sagt er, «da wollte sie lieber das Haus verkaufen und sich einen schönen Lebensabend machen.»
    Keine Erben. Niemandes Großmutter. Der Boden war trügerisch. Meine Hoffnung ertrinkt.
    Dieser Makler ist anders als der zuvor. Als er sich zu mirumdreht, sieht er, was mit mir los ist. Stellt den Ordner weg. «Kein Schülerprojekt über Bertolt Brecht?», fragt er und setzt sich wieder auf seinen breiten Ledersessel, mir gegenüber.
    Ich schüttle den Kopf. Tränenblind.
    «Was ist es dann?» Seine Stimme ist die eines Märchenonkels. Ich werde wieder zum vertrauensvollen Kind, das sich durch den dunklen Wald leiten lassen will. Trotzdem ist das, was ich sage, nicht die ganze Wahrheit. Wie könnte die ganze Wahrheit in dieses Maklerbüro passen? Wie könnte ich Thursens Leben bloßlegen auf diesem Schreibtisch?
    «Ich suche einen Jungen», sage ich. Bin stolz auf mich. Ein ganz normaler Satz. «Er hat in diesem Haus gewohnt.»
    «Im Waldeichensteig?»
    Ich nicke und reiche das Foto über den Schreibtisch. Er nimmt es in die Hand. Dreht es ins Licht, als wäre in dem Bild noch eine tiefere Wahrheit verborgen. Schiebt an seinem Krawattenknoten. «Das ist nicht im Waldeichensteig. Das Haus kenne ich. Warte mal   …»
    Ich warte. Warte doch schon, seit Thursen mir das Bild gab. Warte und vergesse zu atmen.
    «Kornelkirsche!», sagt er und pickt mit dem Finger auf das Bild, das jetzt wieder einfach nur ein Bild ist. «Weg, Steig, Straße, keine Ahnung. Guck im Stadtplan nach.»
    «Haben Sie dazu nicht auch einen Ordner?»
    Er schüttelt den Kopf. «Nein, das war nur eine Anfrage. Es gab keinen Vertrag. Die Familie, die da wohnte, wollte das Haus eigentlich verkaufen. Der Mann war mal hier. Dann hat er angerufen und es zurückgezogen.» Seine Stimme wird leiser. «Ich habe gehört, es gab eine Tragödie. DerSohn ist plötzlich spurlos verschwunden. Ist es der, den du suchst?»
    Ich weiß nicht, ob ich nicken soll. Meine Gedanken haben sich verlaufen. Wohnt die Familie immer noch dort? Wartet, dass ihr Sohn eines Tages zurückkommt? Herr Möller redet trotzdem weiter. Das Mitleid in seiner Stimme ist wie ein Polsterkissen. «Ich weiß ja nicht, wonach du suchst, aber die Polizei hat dort schon jeden Stein umgedreht. Ich habe nicht gehört, dass der Junge wiederaufgetaucht ist. So was hätte bestimmt in der Zeitung gestanden.»
    Natürlich ist der Junge nicht aufgetaucht. Ich weiß doch, wo er ist. Er lebt im Verborgenen, in einen langen, dunklen Mantel gehüllt. Namenlos. Der Makler guckt mitleidig. Meine Tränen fließen schon wieder, dabei sind es diesmal Glückstränen. Ich bin so dankbar. Vielleicht ist die Familie noch da, vielleicht wissen die Nachbarn etwas. Herr Möller weiß ja nicht, dass ich nur einen Namen suche.
    Tränenblind stolpernd und eine Entschuldigung an die Vorzimmerdame richtend, verlasse ich das Büro. Erst als ich vor dem Haus stehe, kann ich wieder denken.
    Guck auf dem Stadtplan nach, hat Herr Möller gesagt. Ich brauche einen Stadtplan. Morgen fahre ich hin. Für heute habe ich mein Glück aufgebraucht. Heute kaufe ich nur den Plan. In der Bahn falte ich ihn auseinander. Fahre mit dem Finger die Gegend um die Lovis-Corinth-Schule ab. Knisternd verrät der Plan mir sein Geheimnis. Ich tippe den Kornelkirschenweg in meinen Handyspeicher. Mein Ziel. Morgen.
    Vielleicht bin ich ganz nah dran. Vielleicht weiß ich morgen was. Vielleicht ist es aber auch eine tote Spur, dieim Nichts endet. Vielleicht hat Thursen das Foto einfach irgendwo gefunden, eingesteckt und vergessen. Aber irgendwie bleibt da das gute Gefühl tief in mir.
    Glück, Freude, und niemand, mit dem ich sie teilen kann. Wie gern hätte ich Thursen von meinen Fortschritten erzählt. Oder, wie früher, mit Fabi glänzende Pläne geschmiedet. Aber jetzt läuft meine Freude ins Leere. Von Thursen will ich mich

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