Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
dem Tier. Hockt sich zu ihm und legt die Arme um seinen Hals. «Ich kriege das Geräusch, den Knall von dem Schuss nicht aus dem Kopf. Geht’s dir auch so?»
«Das Geräusch von welchem Schuss?», frage ich, kann nicht zurückhalten, was mir auf der Seele brennt. «Von dem Schuss, der Sjöll tötete, oder von dem, der dich getroffen hat?» Wieso geht Thursen so leichtsinnig mit seinem Leben um? Hätte der Jäger beim zweiten Schuss nurein wenig anders gezielt, stünde ich jetzt vor einem Thursen-Baum. Eckig und ungeschickt hätte ich seinen Namen in die Rinde geritzt, weil es auch für ihn kein richtiges Grab gäbe. Eine eiskalte Faust fährt mir in den Magen. O mein Gott, Thursen. Nicht Thursen! Ich schließe die Augen, damit die Tränen nicht herausrollen. Öffne sie erst wieder, als ich Schritte höre.
Norrock kommt mit einer Wasserflasche in der Hand auf uns zu. «Das war eine wirklich blöde Idee mit deinen Bäumen!», sagt er zu Thursen und klopft ein paar Schritte später Karr zur Begrüßung auf den Rücken.
«Für Luisa», antwortet Thursen und sieht zu mir herüber, «war es wichtig.»
«Luisa!», schnaubt Norrock. «Guck dir Karr an! Seit Tagen war er kein Mensch mehr. Frisst nicht! Trinkt nicht! Wie soll er darüber hinwegkommen, wenn du ihm Sjölls Namen riesengroß in den Wald schreibst?»
«Es tut mir leid wegen Karr», sage ich.
«Wir brauchen ihn!», sagt Norrock. «Er war immer der, der für uns unter Menschen gegangen ist.»
«Ihr müsst vielleicht nur Geduld haben.»
«Haben wir aber nicht! Die Kleine friert! Sie kann sich noch nicht verwandeln. Ohne vernünftiges Fell braucht sie eine Jacke! Und nicht erst, wenn sich Karr trotz dieser albernen Schnitzereien wieder eingekriegt hat. Am liebsten würde ich die verdammten Bäume fällen!», sagt Norrock und gibt dem Stamm einen Tritt.
Ich weiß, dass er es nicht kann. Die Bäume sind sicher. Er hat keine Säge, und er kann nicht mehr lange genug Mensch bleiben, um sich eine zu kaufen. Er ist nicht so stark wie Thursen, der sich selbst überwinden kann.
«Wo ist die Kleine jetzt?», fragt Thursen.
«Im Lager. Jerro und Rawuhn sind bei ihr und wärmen sie, so gut es geht.»
Ich habe gesehen, wie sie friert. Ohne Zelt, ohne Unterschlupf. Ohne Zuhause, in das sie gehen kann. Mit nur ein paar struppigen Wölfen, die sie vor der ärgsten Kälte schützen. «Soll ich für das Mädchen eine Jacke kaufen?»
«Das würdest du machen?», fragt Norrock.
Ich weiß, dass er denkt, ich mag sie nicht. Egal. «Habt ihr Geld?»
Norrock weist mit der Flasche hinter sich. «Im Lager.»
«Ich gebe Karr das Wasser», sagt Thursen und nimmt Norrock die Wasserflasche aus der Hand. Und ich folge Norrock zurück ins Lager.
«Wieso geht Karr nicht selber trinken?», frage ich Norrock. «Das kann er doch auch als Wolf.»
«Der geht keine zehn Schritte von Sjölls Baum weg.»
Ich muss mich beeilen, ein paar Schritte laufen, um mit Norrocks Tempo mitzuhalten. «Als ich bei Sjölls Baum war, war er aber nicht da.»
Norrock zuckt die Schultern. «Das sagst du bloß, weil du ihn nicht gesehen hast.»
Nicht gesehen, aber gehört. Das Rascheln, das ich gehört habe, war das Karr, der sich im Gebüsch versteckte?
Ich drehe mich nochmal um. Da sehe ich, wie Thursen in seinem langen, dunklen Mantel vor Karr hockt. Hält die Flasche in der Linken und gießt sich das Wasser in die hohle rechte Hand. Karr leckt es auf. Nicht gierig, sondern langsam, zögernd. Würde Thursen es ihm nicht vors Maul halten, würde er überhaupt nicht trinken. Und sterben. Und wir müssten einen Karr-Baum schnitzen.
«Kommst du jetzt?»
Norrock ist schon am Eingang, bückt sich und tauchtin die Wolfshöhle hinab. Ich folge ihm. Erst ist es ganz dunkel um mich, dann, als sich meine Augen langsam gewöhnen, kann ich wenigstens Umrisse erkennen. Das Mädchen, das bestimmt nicht Gabriella heißt, sitzt dort, ganz klein gefaltet, und zittert. Neben ihr, an sie gedrängt, der helle Wolf, Rawuhn. Die Hände hat sie in seinem Fell vergraben. Jerro, zusammengerollt, wärmt ihren Rücken. Norrock zieht unter den Blättern eine Plastikdose hervor. Er öffnet sie und drückt mir ein knisterndes Bündel in die Hand. Geldscheine.
«Woher habt ihr das?», frage ich.
Vermutlich verzieht Norrock das Gesicht. In der Dunkelheit der Höhle kann ich es nicht sehen, aber im Ton seiner Antwort schwingt es mit. «Du hast uns doch auf der Schloßstraße gesehen, oder?», fragt er.
«Mhm», stimme ich zu. Ich
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