Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
alles, was er noch hat!»
«Scheiße nur, dass er das nicht zeigt, nicht?»
«Herrgott, ich weiß doch auch nicht, was Vati will!», schimpft sie und wirft den Rest des Brotes auf ihren Teller. «Ich tu doch schon, was ich kann, und es ist nie genug. Und jetzt ist auch noch dein Vater weg.»
«Bin ich jetzt etwa schuld, dass er abgehauen ist?»
«Luisa! Natürlich nicht.» Sie reinigt ihre Finger an einer Papierserviette. «Niemand ist schuld. Alles wird gut, du wirst sehen. Wir müssen nur ganz fest daran glauben.» Sie sieht auf die Uhr. «Tut mir unwahrscheinlich leid. Wir können später noch darüber reden. Ich muss dringend los. Und du hast doch auch Schule!»
Meine Mutter ruft noch «Viel Spaß!» und «Komm nicht zu spät!», dann fällt die Wohnungstür ins Schloss. Und ich kippe mein Müsli in die Mülltonne. Dann verlasse ich mit dem Schulranzen auf dem Rücken das Haus. Mit Pausenbrot und Trinkflasche wie ein Kindergartenkind. Meine Mutter hat mir ein Brot geschmiert. Mit dem Lieblingslöcherkäse von meinem Bruder. Dem Käse, den ich nicht mag.
Auf dem Weg zur Schule überlege ich, in welchen Mülleimer ich mein Pausenbrot werfen soll. Und ob meine Eltern sich wirklich ein Haus gekauft hätten. So eins wie in dem Maklerprospekt. Vielleicht haben sie darum Listen mit Zahlen geschrieben. Vielleicht haben sie gerechnet, ob sie sich wieder ein Haus leisten können, hier in Berlin.
Und dann ist da plötzlich eine Idee in meinem Kopf. Die wichtigste des ganzen Tages: Wie stand es in dem Prospekt?
Wir finden genau das Haus, das sie suchen.
Genau das Haus. Jedes Haus? Auch das Haus vom Foto? Thursens Haus?
Mitten auf dem Weg bleibe ich stehen. Und dann weiß ich, was ich zu tun habe. Ich drehe wieder um. Nehme meinen Schulranzen, trage ihn in die Wohnung und werfe ihn in die Ecke. Er fällt auf die Seite, springt auf und erbricht Bücher und leere Hefte. Ich steige darüber hinweg und setze mich an meinen Schreibtisch.
ELF
Der Computer startet leise surrend, begierig, mir zu helfen. Mein Handy funkt dem Computer das Bild zu, und der Drucker schenkt mir ein einigermaßen brauchbares Bild von Thursens Haus. Auf dem Spezialpapier sieht es fast wie ein echtes Foto aus. Aus dem Internet drucke ich mir Adressen von Häusermaklern in der Gegend um Thursens Schule aus.
Ich habe alles, was ich brauche. Nein, halt, eins noch. Ich pflücke meine gewaschenen Klamotten von gestern von der Leine und ziehe mich um. Raus aus dem kratzigen Pullover und den steifen neuen Jeans. Rein in die abgewetzten Waldhosen. Wo ist meine moosgrüne Jacke? Jetzt bin ich nicht mehr Mamas Kunstfigur. Endlich sehe ich wieder aus wie ich. Mache mich auf meinen Weg.
Es ist eine lange Liste von Maklern. In der U-Bahn lese ich sie nochmal durch. Mit dem Makler, der am nächsten an der Lovis-Corinth-Schule sitzt, beginne ich. Dieses Maklerbüro ist in einem Eckhaus. Der Name steht in geraden Buchstaben über dem Eingang. In den Fenstern rechts und links hängen Tafeln mit Bildern von Häusern und Wohnungen, mit Grundrissen und Preisen daneben. Auf einigen steht: verkauft.
Ich drücke die Tür auf. Betrete dezent blauen Teppichboden, der meine Schritte dämpft. Die Frau am Empfang guckt misstrauisch und stellt noch schnell mit Businesslächeln ein knappes Dutzend Telefongespräche durch, ehe sie mich wahrnimmt. Vermutlich sehe ich nicht so aus, als wollte ich eine Villa kaufen.
«Ja bitte?», fragt sie.
Ich bleibe höflich, trage meine Geschichte vor. Erfinde noch etwas von einem Schulprojekt über die Gegend hier, um es dringender zu machen. Ohne Erfolg. Es täte ihr leid, aber der einzige Mann, der mir vielleicht weiterhelfen kann, hat gerade ein Kundengespräch. Es kann noch länger dauern.
«Gut», sage ich, «dann werde ich warten.»
«Wirklich?»
Hofft sie, dass ich freiwillig gehe? Ich bleibe. Wippe auf dem unbequemen Stuhl am Besuchertisch. Neben mir wächst ein kleiner Urwald mit Wasserfall aus einem Pflanzkübel. Ich sehe dem Wasser beim Plätschern zu. Habe Zeit, mir ein überzeugendes Schulprojekt auszudenken. Meine rastlosen Füße baumeln Furchen in den gewitterwolkenblauen Teppichboden. Der Stuhl quietscht. Bei jedem Baumeln. Quietsch. Quietsch. Quietsch. Quietsch. So wie der Sekundenzeiger der Uhr an der Wand mir gegenüber. Nach einer Weile schiebt mir die Empfangsdame ein Mineralwasser zu und einen der Besucherkekse, um mich ruhigzustellen. Nimmt ihr Telefon und erzählt in schnell gemurmelten Sätzen, dass hier
Weitere Kostenlose Bücher