Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
sich vor mich, breitbeinig, breitschultrig, mit gehobenen Händen, sodass ich anhalten muss. «Ganz ruhig, Luisa.»
Und hinter ihm Thursen, mein Thursen, hockt neben dem Mädchen und legt den Arm um sie. Redet leise auf sie ein.
Ich strecke meine Hände aus, will Norrock wegschubsen. «Geh mir aus dem Weg, verdammt!»
Er weicht meinem Griff aus. «Bitte. Lass dich nicht aufhalten. Du weißt ja, was du tust.» Er macht einen Schritt zur Seite und schlendert weiter, weg von uns, als hätte ich ihn nicht eben angefahren.
Thursen sieht zu mir auf. Ein fremder Thursen. Kein Lächeln hat er für mich. Misstrauen im Blick. Er weiß, dass ich nicht wegen ihm zurückgekommen bin. Alles nur ein blöder Zufall. Ich will gar nicht hier sein. Wünschte, ich wäre nie gekommen. Unter dem Blick seiner eisgrauen Augen wird mir kalt.
Und er sitzt weiter da und streicht diesem fremden Mädchen über den Rücken. Seine lange, schmale Hand auf ihrem viel zu großen Pullover. Er streichelt das Mädchen, das dasitzt mit gesenktem Kopf und mich nicht ansieht.
«Wer ist das?», fahre ich Thursen an.
Er antwortet nicht. Seine Hand hört auf zu streicheln und legt sich auf ihre Schulter.
«Frag sie doch selbst!» Norrock kommt mit einer von den Wasserflaschen zurück. Reicht sie dem Mädchen, das durstig trinkt, während Thursens Hand jetzt wieder auf ihrem Rücken liegt, als müsste er sie vor mir beschützen.
«Also?», frage ich sie. Tippe ihr ungeduldig auf die Schulter.
Sie setzt die Flasche ab. Hustet. «Ich geh nicht zurück!»,keucht sie mit rotem Gesicht. Sieht flehend zu Thursen und Norrock auf. Hustet nochmal. «Ihr habt gesagt, ich muss nicht zurück!»
Thursen zieht die Augenbrauen zusammen und sieht Norrock an. Norrock zieht lässig einen Mundwinkel hoch.
«Also gut, dann mach ich das», sagt Thursen, nickt mir zu und kommt langsam auf die Beine. «Was willst du wissen?»
Meine linke Hand ist zur Faust geballt, während ich mit der anderen auf die Fremde zeige. «Ist sie jetzt dein Projekt, Thursen? Das Mädchen, um das du dich kümmern kannst? Da hast du mich ja schnell ersetzt!»
«Ich habe dich nicht ersetzt.»
«Oh, Entschuldigung, natürlich ist sie kein Ersatz für mich. Sie ist ja euer neues Rudelmitglied. Das durfte ich ja nicht werden!»
«Sie ist kein Ersatz. Für niemanden.»
«Was ist sie dann?»
«Verflucht, Luisa! Norrock hat sie heute erst gefunden. Ein Stück weit in den Wald hinein auf einer alten Eiche.» Er weist mit dem Kopf in die ungefähre Richtung. «Dort stand sie auf einem dicken Ast.»
«Sie wollte sich da aufhängen.» Norrock zeigt auf das Seil, das sie in der Hand hält. Aufgerollt zu einem unordentlichen Knäuel. Sie verbirgt es, als ich hinsehe, ungeschickt hinter dem Rücken. Kriecht noch mehr in sich zusammen.
«Deinen Strick nehme ich jetzt besser!», sagt Thursen zu dem Mädchen. Beugt sich vor, greift zu und zieht ihn ihr aus der Hand. Zögernd gibt sie nach. Das Seil ist lang und stabil, so dick wie mein Daumen. Das hätte gehalten.
«Sie wollte sich umbringen», sagt Thursen, während erdas Seil entknotet und es sich wie einen endlosen Gürtel um die Taille schlingt. «Wir werden jetzt dafür sorgen, dass sie wieder leben kann, klar? Und dazu gehört, dass du die Kleine nicht nochmal so anfährst.» Er hockt sich wieder neben das Mädchen und nimmt ihr sanft die ausgetrunkene Flasche aus der Hand.
Die Kleine. Ich hätte mir das Mädchen ansehen sollen. Ganz genau ansehen. Bevor ich so ausgerastet bin. Sie ist höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Ein Kind. Ein verschrecktes, ängstliches Kind, das zu Norrock aufblickt wie zu einer Mischung aus Weihnachtsmann und großem Bruder. Ein Kind, das Todesangst in den Augen hat.
Ich schlucke. Thursen hat recht. Ich muss besser aufpassen, was ich sage. Muss ihr die Angst nehmen, sonst springt sie auf und rennt davon, blindlings wie ein verschrecktes Reh, das vor ein Auto läuft.
«Es tut mir leid, wenn ich unfreundlich war. Bleib hier», beruhige ich sie. «Hier bei Norrock und Thursen bist du sicher.» Bis der Jäger dich erschießt. O Gott, wie glatt ich lügen kann.
Die Kleine nickt. Immer noch stumm.
«Hat sie was erzählt?», frage ich Norrock.
«Nein. Nur dass sie nicht zurückwill.»
«Zurück? Wohin?»
«Keine Ahnung. Ist doch auch nicht wichtig. Solange sie nicht nochmal versucht, sich aufzuhängen.»
Aufhängen! Warum wollen alle sterben? Alle hier um mich, Menschen und Wölfe, hassten ihr Leben so, dass
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