Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
frage nicht, wer ihnen die Münzen in Scheine getauscht hat. «Also gut. Welche Größe hast du?», will ich von dem Mädchen wissen. Erst verstehe ich ihre Antwort nicht, so leise ist sie. «Bald 164», sagt sie. Kindergröße. Ich habe mich nicht geirrt, sie ist noch ein Kind.
«Ich geh dann mal», sage ich, stecke mir die Scheine in die Jackentasche und krieche nach draußen.
Ich sehe auf die Uhr. «Zu spät, in einer halben Stunde machen die Läden zu, das schaffe ich nicht mehr. Aber morgen», verspreche ich, «morgen komme ich mit einer Jacke.»
Als ich noch einmal in die Höhle schaue, ist Norrock schon Wolf, streckt die Pfoten und rollt sich dann zusammen, um das Kind von der anderen Seite zu wärmen. Und ich gehe nach Hause, durch den Wald, das knisternde Bündel Scheine in meiner Tasche.
Als ich aus dem Gebüsch trete, hinaus auf den Wanderweg, hält meine Hand in der Tasche noch immer das Geld umklammert. Ein paar Schritte später komme ich zu der Laterne, an der Thursen mich damals verabschiedet hat. Meine Laterne. Unsere Laterne. Die Laterne, an der jetzt ein gefleckter, schlappohriger Köter sein Bein hebt.
«Was soll das!», rufe ich und will den Jungen am anderen Ende der Leine am liebsten in die Büsche schubsen. Da dreht er sich um.
«Hi, Luisa!» Es ist Edgar, die Nervensäge aus meiner Klasse. Er grinst mich an und tut so, als hätte er meine Frage gar nicht gehört. Oder nicht auf sich bezogen. Sein Hund, ein Bassett, ist mit dem Pinkeln fertig und kommt neugierig zu mir gewackelt.
Ich sage nichts.
Der Hund schnüffelt an meinen Beinen. Plötzlich erstarrt er, die Haare an seinem Rücken stellen sich auf, als sei er eine Schuhbürste, und er fängt an zu knurren.
«Keine Angst, er tut nichts», sagt Edgar und tätschelt seinem Hund den Kopf.
Ich habe keine Angst. Nicht vor so einem Hund.
«Ich verstehe das gar nicht. Was riecht er bloß?», plappert Edgar schon weiter. «Sonst ist er immer so freundlich. Hast du vielleicht auch einen Hund?»
Hund? «Nein, hab ich nicht», sage ich. Ich stelle mir vor, was Thursens Wölfe mit dem Bassett anstellen würden, wenn er sie so anknurren würde. Edgar könnte seine Reste in einer Plastiktüte nach Hause tragen.
«Ich muss jetzt.» Ich will gehen, aber Edgar verstellt mir den Weg.
«Was machst du hier?», fragt er. «Ich denke, du bist krank oder so. Und jetzt läufst du hier im Wald rum.»
Ich bohre auch meine andere Hand in die Jackentasche. «Geht dich das was an?»
«Wann kommst du wieder in die Schule? Du verpasst doch den ganzen Stoff.»
«Verdammt, warum bist du so eklig neugierig! Hast du selbst keine Probleme, dass du dauernd bei anderen Leuten welche suchst?»
«Ich weiß nicht. Hast du denn welche? Probleme, meine ich.»
«Lass mich einfach in Ruhe.»
«Willst du darüber reden?»
«Welchen Teil von ‹Lass mich in Ruhe› hast du nicht verstanden?»
«Kommst du wieder zur Schule, wenn ich dich in Ruhe lasse?»
«Kommt mein Leben wieder in Ordnung, wenn ich rede?»
«Vielleicht. Manchmal hilft es.»
«Ich sag dir was: Meine Probleme sind eine Nummer zu groß für dich.»
«Also hast du doch welche. Hab ich doch gewusst. Wenn du Ärger mit der Polizei hast, oder so …»
«Wow, deine Mitschülerin auf der schiefen Bahn. Und du bist der Retter auf dem weißen Pferd. Kriegst du jetzt einen Preis? Ach nein, ich weiß: So kriegst du deine Freundinnen rum!»
«Also, ich hab gar keine Freundin.»
Da spätestens muss ich lachen. Ich kann nicht anders. Sein treuherziges Gesicht! Er hat so gar nichts verstanden. Ist so in seiner Welt verwurzelt, mit Gut und Böse und einer Polizei, die im Zweifelsfall alles richtet. Edgar weiß noch weniger über mein Problem als sein Hund. Edgar,der nie verstehen wird, warum ein Mädchen, ein Kind noch, lieber sterben will, als bei seinen Eltern zu bleiben. Ich lache, bis mir die Tränen kommen.
Dann endlich wird er mal wütend. «Ja, ich habe von deinem Bruder gehört. Entschuldige, dass alle Leute, die ich kenne, noch leben! Entschuldige, dass ich nicht allem Leid dieser Welt ins Gesicht gesehen habe. Natürlich habe ich da kein Recht zu fragen, was los ist, schon klar. Sag mal, gibt es eigentlich noch irgendwen, der es mit dir aushält?»
Ich schlucke mein Lachen und bin wieder ernst. «Ja, stell dir vor!»
«Ach ja? Da bin ich aber mal gespannt! Und wer?»
«Thursen.» Ich sage es, ohne nachzudenken, und weiß nicht einmal mehr, ob es stimmt.
«Thursen? Interessanter Name. Na
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