Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
dann mal viel Spaß mit deinem Thursen!»
Sein Abgang missglückt, weil sein kurzbeiniger Bassett etwas Zeit braucht, um zu wenden.
Ich gehe einfach weiter. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich nochmal umzudrehen. Da gibt es ein Mädchen im Wald, das friert.
Ich komme spät nach Hause. Das ist wohl ein Fehler. Als ich am nächsten Morgen raus will, ist die Tür abgeschlossen. Niemand ist da. Niemand weckt mich, niemand versucht, mich zum Frühstücken zu zwingen, ich bin ganz allein in der Wohnung und kann nicht raus. Was soll das? Soll ich auf einmal nicht mehr zur Schule? Da erst fällt mir auf, dass Samstag ist. Schulfrei. Ich will hier raus! Mein Schlüssel ist weg. Nein, ich habe ihn nicht verlegt. Zur Sicherheit sehe ich noch einmal nach. Meine Jackentasche ist leer, und auch in der Schlüsselschublade finde ich nichts. Aber auf der Küchenarbeitsplatte liegt ein Zettel von meiner Mutter.
«Wir müssen reden!» steht da. Ich schreibe «NEIN» darunter und breche dabei dem Bleistift die Spitze ab.
Wie kann sie mich einsperren! Morgens, wenn ich noch schlafe, heimlich meinen Schlüssel klauen. Was wird das? Gefängnis ohne Anhörung? Ohne dass ich was dazu sagen kann?
Das Telefon klingelt. Anscheinend meldet sie sich wenigstens von unterwegs. Mit einem Griff reiße ich das Mobilteil aus der Schale. «Pass auf, Mama!», brülle ich.
«Ich bin es, Edgar.»
«Was?»
«Ich wollte mich entschuldigen, dass ich dich gestern so angeschrien habe. Das war nicht nett, tut mir leid.»
«Sag mal, kannst du einmal nicht so zwanghaft nett sein?»
«Ich wollte doch nur helfen!»
«Wenn du mir helfen willst, dann sagst du mir einen guten Schlüsseldienst!»
«Hast du dich ausgesperrt? Soll ich vorbeikommen?»
«Nein, verdammt! Ich habe mich nicht ausgesperrt! Wie soll ich denn dann ans Telefon gehen? Ich komm hier nicht raus!»
«Luisa, hör mir zu! Am besten, du wartest, bis deine Mutter zurückkommt.»
«Nein, Edgar. Das werde ich ganz bestimmt nicht tun! Tschüs!»
Er sagt noch «Tschüs», als ich Aus drücke. Ich werfe das Telefon auf den Esstisch. Die Batterien fliegen raus, als es scheppernd in der leeren Obstschale landet.
Ich möchte eine Axt nehmen, die Wohnungstür einschlagen. Stelle mir das knirschende Geräusch vor, wenn die Holzsplitter aus dem Rahmen krachen. Weil ich geradekeine Axt habe, reiße ich alle Fenster auf. Hänge mich über die Fensterbank. Die Straße lockt, und ich kann nicht hin. Der Balkon! Die Balkontür bockt, ich ziehe daran und bin draußen. Besser. Immer noch zu hoch. Unter mir eine Stimme, die ich kenne. Puppenprinzessinnen plaudern beim königlichen Tee. «Lotti?»
«Luisa?», höre ich ihre Kinderstimme. «Kommst du runter? Dann könntest du mit mir Party spielen. Du könntest meine blonde Prinzessinnenpuppe sein.»
«Lotti, mein Schlüssel ist weg, und die Haustür ist zu. Ich kann nicht raus.»
«Ach so. Schade.»
Da kommt mir eine Idee. Ich beuge mich vor, aber ich kann nicht auf den blöden Balkon unter uns sehen. Was, wenn Anja neben Lotti steht? «Lotti, hör mal, bist du allein?»
«Ja, wieso?» Lottis Kopf erscheint über der Brüstung, und sie sieht zu mir hoch.
«Weil ich runterkomme. Ich versuche, zu dir auf den Balkon zu klettern.»
«Au ja!», sagt sie. Freude in der Stimme. Ein spannendes Abenteuer.
«Kannst du mich dann rauslassen?»
«Da muss ich Mama fragen.»
«Nein! Nein, das muss heimlich sein.»
«Dann musst du das aber gleich machen. Solange Mama in der Küche ist. Sonst sieht sie dich!»
«Gut. Ich brauche nur was zum dran Runterklettern. Bis gleich!»
Als ich mein Bettlaken in Streifen reiße, wie in einem Gangsterfilm, verfluche ich meine Mutter dafür, dass sieAnja keinen Schüssel gegeben hat. Früher hatten unsere Nachbarn unsere Schlüssel. Den hätte Lotti einfach nehmen und mich rauslassen können. So knüpfe ich ein Seil und schleppe es auf den Balkon. Es ist schwierig, die dicken Stoffstreifen an der Balkonbrüstung festzuknoten. Dann werfe ich das Knäuel hinab, und als es sich entrollt hat, schiebe ich mich, vorsichtig, Beine zuerst, über den Rand. Ich muss mich nur ein kleines Stück tiefer rutschen lassen, über einen der wulstigen Knoten hinwegklettern und nicht nach unten sehen. Endlich greift Lotti nach meinem Bein, zieht mich zu sich, und ich kann, am leeren Blumenkasten vorbei, auf ihren Balkon klettern. Ich versuche, nicht auf ihre Puppen zu treten.
«Mama ist in der Küche, Lilli füttern», flüstert Lotti.
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