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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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angehalten. Und dann fällt mir auch auf, was mir so komisch vorkommt, wenn ich mir klarmache, dass das hier Thursens Zimmer ist. Dies hier ist das Zimmer eines Jungen, Thursen ist viel zu alt dafür. Selbst die Jungen in meiner Klasse in Hamburg hatten erwachsenere Zimmer. Wie lange ist er schon weg? Trotzdem. Das ist Thursens Zimmer! Die Welt, in der er als ganz normaler Mensch gelebt hat! Als Lars Anton Lund.
    «Können wir runter?», sagt Agnetha, steht schon in der Tür.
    «Ja, klar. Danke, dass du dir die Mühe gemacht hast.»
    Unten im Flur ziehe ich mein Handy aus der Tasche und schalte es an. «Gibst du mir deine Nummer?», frage ich. «Falls, du weißt schon. Falls ich was höre.» Will nicht mehr sagen, nichts versprechen, nicht lügen. Mich nochnicht zu sehr freuen. Ich fotografiere Agnetha, knipse Thursens Bild und speichere ihre Nummer ein. Dreimal sagt sie sie mir vor, bis ich sie endlich richtig eingegeben habe mit meinen zittrigen Fingern. Dann ist mein Akku leer, und mein Handy schaltet sich ab.
    «Ich muss jetzt gehen», sage ich.
    «Du kennst ihn, nicht?» Agnetha sieht mich prüfend an. «Jetzt, meine ich. Nicht von früher.»
    Ich sage nichts. Aber ich fühle, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Und mit einem Mal liegen wir uns in den Armen. Thursen hat eine Schwester. Eine Menschenschwester. «Sag ihm, dass ich ihn vermisse», flüstert sie.
    Ich nicke. «Weißt du, er   –»
    Sie unterbricht mich. «Würdest du deinen Bruder nicht auch wiederhaben wollen, egal, was mit ihm ist? Egal, wie er lebt? Egal, was er angestellt hat? Selbst wenn er im Knast sitzt oder sonst was ausgefressen hat?»
    «Ja. Ja, bestimmt», sage ich. «Fabi würde ich auch auf jeden Fall zurückhaben wollen.»
    «Siehst du.»
    Dann bin ich draußen. Im Sonnenschein.
    Lars Anton Lund. Fabi kann ich nicht zurückholen, aber Agnethas Lars Anton vielleicht. Lars Anton Lund. Meine Schritte klopfen die Silben auf die Gehwegplatten. Mein Atem strömt in diesem Rhythmus. Ich habe die Lösung. Ich habe den Namen. Lars Anton Lund. Bin eine Fee, die den Zauberspruch gefunden hat. Den einen Spruch, der den Bann löst. Eine Fee in der U-Bahn . Viel zu langsam. Ich wünschte, ich könnte fliegen. Lars Anton Lund.

VIERZEHN
    Sie sind an ihrem gewohnten Platz. Ich kann sie ganz klein da vorne vor dem großen Kaufhaus sitzen sehen, da, an den Treppen hinunter zum U-Bahnhof . An der niedrigen, orange gefliesten Mauer, die den U-Bahn -Eingang umfasst, sitzen wieder der Junge und sein Hund. Ich laufe voller Vorfreude die Schlossstraße hinunter. Schlängle mich zwischen den Einkaufenden hindurch, an Drehständern, behängt mit Tüchern vorbei und ziehe unter Plüschfiguren, die von niedrigen Markisen baumeln, den Kopf ein. Trabe, renne, muss sie sehen, Thursen und Karr. Ob das Gedicht von Sjöll wohl wahr ist? Oder ist es ebenso erlogen wie die Geschichte mit den Silberkugeln? Wenn Thursen nicht auf einen Schlag zurückverwandelt wird, vielleicht erinnert er sich wenigstens, wenn ich ihm seinen Namen sage, von Agnetha erzähle und die Fotos auf meinem Handy zeige? Vielleicht kann ich seine endgültige Verwandlung in einen Wolf wenigstens aufhalten?
    Die Wahrheit ist: Ich kann gar nicht an Zweifel denken. Bin so angefüllt mit Vorfreude, dass ich platzen könnte. Ich sehe Thursen vor mir, wie er aufspringt, wieder aussieht wie der glückliche Junge auf Agnethas Foto, der er einmal war. Wie er mich umarmt, küsst und auf ewig mit mir zusammen ist. Wie er dem traurigen Wolf, dem wütenden Werwolf in sich, für immer entkommt. Wie er sich nie mehr verwandeln muss und Mensch bleibt. Bei mir bleibt, froh und frei von Sorgen. Und wie ich für immer glücklich bin, weil er bei mir ist.
    Vollkommen außer Atem bin ich, als ich bei Thursen und Karr ankomme. Lasse mich neben dem Thursen-Wolf zu Boden gleiten und drücke lachend sein gelbäugiges Wolfsgesichtan mich. Zause sein Fell. Kann nicht sprechen. Luft! Erschöpft lehne ich den Kopf an die geflieste Wand. Schließe die Augen. Mein Mund lacht noch immer.
    Karr hat eine flache Schale vor sich, in der ein paar Münzen liegen. Ein paar mehr als sonst. Ein guter Tag, ich wusste es. Ein schlunziger Typ mit Vollbart nickt uns zu und lässt im Vorbeigehen drei 5 0-Cent -Stücke klirrend in die Blechschale rutschen. Eine junge Frau mit ihrem Babybuggy wirft einen Euro hinein.
    Eine Frau mit Löckchenfrisur im hochgeschlossenen Wintermantel geht an uns vorbei und gibt nichts. Ich ärgere mich nicht.

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