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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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Jacke ausgegeben. Und Karr will unbedingt auch Blumen für Sjölls Baum kaufen. Norrock kann Zrrie nicht allein lassen. Thursen hat mich gebeten, von dem Geld auch Schokolade für Karr zu kaufen. Vielleicht hilft ihm das ein bisschen. Er sieht so elend aus. Als wäre ein Teil seines Lebens einfach aus ihm herausgetropft. Ich hoffe, Thursen passt gut auf ihn auf. Thursen trägt statt eines Halsbandes wieder das Tuch, das ich ihm damals umgebunden habe. Bahnhof Rathaus Steglitz, sie sind da. Ich streiche Thursen über das raue Fell, als er hinter Karr aus dem Zug stakst. Karr hält nichts von Leinen. Ich sehe es ihnen an, beide haben Angst. Angst vor den Menschen. Ihrer Nähe. Ihren Blicken. Aber ich weiß es besser. Die Straße ist so viel weniger gefährlich als die verdammte Jagd in der Dämmerung.
    Warnsignal. Zischend schließen die Türen. Ich fahre allein weiter. Am Bahnhof Friedrichstraße sind viel zu viele Touristen. Sie werden von einer Frau mit schriller Stimme über die Geschichte der Stadt aufgeklärt. Schafsgleich folgen sie ihr Richtung Ausgang. Ich schlängle mich durch den muffigen Gang zum U-Bahnsteig . Dort ist es fast leer. Eine Gruppe Jungen steht herum. Sie machen Witze. Lachen laut und lärmig. Einer hält eine Bierflasche in der Hand. Trotz Verbot zündet sich einer eine Zigarette an. Der Rauch brennt in meiner Nase. Als der Zug kommt, sehe ich zu, dass ich einen anderen Wagen als sie erwische. Vergrabe meine Gedanken in dem Foto von Thursens Haus.
    Die Fahrt hat zu lange gedauert. Zu lange für meine Ungeduld, die sich um mein Inneres windet wie eine Schlangeauf der Lauer. Der Kornelkirschenweg ist länger, als ich dachte. Die Sonne kommt heraus, der Tag wird schön. Trotzdem ist kaum ein Mensch in dem Wohnviertel unterwegs. Ich ertappe mich dabei, wie ich nach dem alten Opel suche.
    Und dann stehe ich vor dem Haus. Tatsächlich das Haus von Thursens Bild. Es ist, als wenn man in einen Film hineingesogen wird. Eine Phantasie, plötzlich Wirklichkeit geworden. Um sicherzugehen, betrachte ich das Foto. Der Baum vor dem Haus ist größer. Und dort, wo auf dem Foto ein Beet war, das den Zuweg säumte, sind jetzt Büsche. Der Ball im Vorgarten ist weg, natürlich. Die Schritte hinter mir nehme ich kaum wahr. Ich will, ohne den Blick vom Haus zu lassen, der Passantin Platz machen und trete näher an den Zaun heran. Die Schritte stoppen, und ich fühle plötzlich, wie mir jemand über die Schulter sieht. «Woher hast du das Foto?», fragt eine junge Frauenstimme.
    Verdammt! Die ganze Zeit habe ich nur daran gedacht, das Haus zu finden. Nie überlegt, was ich sagen will. Was soll ich erzählen? Wie viel kann ich erzählen? Langsam drehe ich mich zu ihr um. Räuspere mich. Meine Zunge ist trocken. Die Worte klemmen im Hals. «Ich suche einen Jungen, der einmal hier gewohnt hat.»
    «Ich muss wissen, wer dir das Foto gegeben hat.»
    «Das ist kein Foto, sehen Sie?» Ich reiche ihr das Bild. «Das ist nur ein Ausdruck. Das Original hat ein Freund mir gezeigt.»
    «Klar ist das nicht das Original!» Sie wischt meine Hand beiseite. «Das hier ist schwarz-weiß. Und jetzt sag mir endlich, wer das Foto hat.»
    «Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich muss nur wissen,wer der Junge war, der in diesem Haus gewohnt hat. Wenn Sie seinen Namen kennen, dann sagen Sie ihn mir bitte.»
    «Ob ich seinen Namen kenne? Natürlich kenne ich seinen Namen! Er ist einfach abgehauen. Und jetzt kommst du hier mit dem Foto an, das er damals mitgenommen hat, und sagst mir nicht, wo du es gesehen hast. Der Junge, von dem du sprichst, war mein Bruder! Ich habe meinen kleinen Bruder verloren. Weißt du, was das bedeutet?»
    «Ja», sage ich und sehe ihr in die braunen Augen, während sie dasteht, eine Hand in die Seite gestemmt.
    Die Tränen laufen mir die Wangen hinunter. «Mein Bruder ist vor fünfeinhalb Monaten gestorben», sage ich. Ich könnte es ihr auch auf den Tag genau sagen. Schaffe es, nicht zu schluchzen. Meine Lippen wollen das «o» in «gestorben» nicht formen. Mundwinkel, die sich von selbst herunterziehen. Die eine Kraft nach unten zwingt, die stärker ist als ich.
    Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Einen Moment lang sieht sie aus, als ob sie nicht weiß, ob sie mir glauben soll. Dann nickt sie mir zu. «Komm mit rein», sagt sie.
    Im Eingang ziehe ich Schuhe und Jacke aus und folge ihr auf Socken. Sie bittet mich in die Küche. Lässt mich am Esstisch Platz nehmen. Der Fliesenboden ist kalt unter meinen

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