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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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konnte.
    «Wat meenste? Wollte der sich echt umbringen?», fragt ein stark geschminktes Mädchen ihre Freundin.
    «Nee», antwortet die, Kaugummi kauend. «Det war bestimmt nur Show. Wer sich echt umbringen will, der springt vorne, am Anfang vom Bahnsteig, vor den Zug. Nicht erst am Ende, wenn der schon janz langsam fährt.»
    «Ihr habt ja keine Ahnung! Haltet bloß eure blöden Klappen!», schreie ich sie an. Sie starren, als sei ich plötzlich verrückt geworden. Der Thursen-Wolf, der sich an der Mauer niedergelassen hat, kriegt gleich die nächste Ladung ab. Es ist mir egal, ob er versteht, ob er mir antworten kann. «Warum hast du mich festgehalten?», schreie ich. «Warum hast du das gemacht?» Er sitzt vor mir. Eingehorsamer Hund. Sitzt dort, den Kopf mitfühlend schräg gelegt, die Ohren gespitzt, und winselt leise.
    Ich nehme Karrs Sachen. Die Hundeleine für Thursen hänge ich mir über die Schulter, und die leere Schale, in der das Geld war, zwänge ich in meine Jackentasche. Dann gehe ich mit Thursen die Straße hinunter zum nahen S-Bahnhof . Dort hätten wir sowieso umsteigen müssen. Eine Menge Menschen folgen mir, gehen voran, die Straße entlang über dem U-Bahn -Tunnel. Gehen den Weg, den die U-Bahn genommen hätte, hätte Karr sich nicht davorgestürzt, um sein Menschenleben zu beenden.
    Zwei Dinge sind mir klargeworden. Schmerzlich klar. Erstens: Das mit dem Namen funktioniert. Der Werwolf verwandelt sich zurück in den Menschen, der er einmal war. Für immer. Kein Weg mehr zurück. Zweitens, und das ist noch wichtiger: Sjöll hat untertrieben. Diese Verwandlung macht den Wölfen nicht Angst. Sie fürchten sie mehr als den Tod.
    Und daher muss ich einen Entschluss fassen. Ich werde Thursen seinen Namen nicht sagen. Niemals. Am besten, ich vergesse ihn, damit ich niemals in Versuchung komme. Alles ist besser, als dass er so endet wie Karr.
     
    Thursen wagt es erst am Waldrand wieder, seine menschliche Gestalt anzunehmen. Sein sonst schon blasses Gesicht wirkt grau, als hätte Karr das meiste von der Kraft, die noch in Thursen war, mitgenommen. Können die Wölfe das? Auch ohne Mondkreis einander Kraft abgeben? Lebt Karr deshalb noch? Dann hätte Thursen wenigstens etwas für ihn getan.
    Statt uns bei den Händen zu halten, verbindet uns ein Name. Karr. Und trennt uns auch. Ich könnte Thursen jetztnicht anfassen. Ich bin nicht traurig, ich bin wütend. Das alles hätte nicht sein müssen. Ich hätte Karr vielleicht noch erwischt, wenn ich gleich den richtigen Bahnsteig gefunden hätte. Wenn Thursen mich nicht so lange festgehalten hätte, bis ich ihn aus den Augen verlor. Ich verstehe ihn einfach nicht. «Warum hast du mich ihn nicht aufhalten lassen?», frage ich. Die blöden Tränen brennen in den Augen, und ich habe das Gefühl, dass mir etwas den Hals verstopft. Ich kann kaum sprechen. Ich will Thursen an den Armen packen und schütteln. «Warum? Karr stirbt jetzt vielleicht!» Ich greife zu kurz, habe nur die Mantelärmel in den Händen, Thursen selbst bekomme ich nicht zu fassen.
    «Ja. Vielleicht.» Er seufzt, befreit sich wie nebenbei aus meinem Griff und setzt seinen Weg fort. «Vielleicht wäre das besser.»
    «Besser? Wenn einer tot ist? Wie kann der Tod besser sein als das Leben? Gerade du hast doch immer gesagt, es ist so wichtig zu leben.»
    «Hast du Karr nicht gesehen? Er war schon vorher zerbrochen. Ganz kaputt. Nur als Wolf konnte er es noch aushalten.» Thursen ist leise, als spräche er zu sich selbst. «Wir hätten nicht von ihm verlangen sollen, dass er sich nochmal verwandelt.»
    Ohne uns abzusprechen, sind wir zu den Trauerbäumen gegangen. Sjölls Baum. Fabians Baum.
    «Du hättest ihm einfach nachlaufen sollen!», sage ich. Bin von Sjölls Baum zu Fabians Baum unterwegs. «Du kannst doch nicht einfach zugucken, wie er sich umbringt! Du hättest etwas tun sollen!»
    Er folgt mir nicht. Thursen ist vor Sjölls Baum stehen geblieben, fährt mit den Fingerspitzen in der Rinde ihren Namen nach. «Und wenn? Glaubst du nicht, er hätte eswieder versucht? Glaubst du nicht, er hat es nicht schon versucht, bevor er zu uns Wölfen gekommen ist? Die Idee mit der Bahn kommt einem doch nicht von einer Sekunde auf die andere!»
    Ich komme zurück, schlage mit der flachen Hand gegen den Stamm von Sjölls Baum. Es klatscht, und Thursen sieht endlich mich an. «Ich hätte es auch wieder versucht», sage ich, «wenn du mir nicht das Versprechen abgenommen hättest, es nicht zu tun. Du hast

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