Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
boxe, drängle, schubse mich hinab gegen die Flut. Der Zug steht noch da, die Türen geschlossen. Wo ist Karr? Ist er dadrin? Lautsprecherdurchsagen, die ich nicht verstehe. Irgendetwas von Ersatzverkehr? Von oben, von der Straße her dröhnt das Martinshorn. Polizei?Endlich bin ich unten. Mache mich ganz klein in der Gruppe derer, die noch auf den Aufstieg warten. Was ist mit dem verdammten Zug? Wie soll ich zu Karr, wenn sie den Bahnsteig räumen?
«Fahrstrom abstellen!», fordert ein Bahnangestellter über Funk.
«Da liegt einer davor!», flüstert die Frau neben mir. Sagt es zu mir, wohl weil sonst keiner da ist, dem sie es erzählen kann. «Ist einfach gesprungen!» Es hört sich an, als würde sie immer noch darauf warten, dass jemand kommt und ihre Welt wieder geraderückt. Ihr sagt, sie hätte geträumt. «Kam angerannt und ist direkt da vorne vor den einfahrenden Zug gesprungen!»
Ich suche nicht mehr. Ich ahne, wo Karr ist. Weiß, was ich nicht sehen sollte. Warum Thursen mich mit aller Kraft festgehalten hat. Karr. Da auf den Schienen soll Karr sein? Es ist zu still. Warum schreit er nicht? Warum höre ich seine Stimme nicht, die um Hilfe ruft? Unruhe auf der Treppe hinter mir. Endlich die Männer mit der Trage. «Platz machen!», rufen sie. Rennen und schubsen die Neugierigen aus dem Weg. Durch die Absperrung. Halten an der Bahnsteigkante. Stellen die Trage ab und fallen vor dem Zug auf die Knie.
Und dann schieben die Bahnleute auch mich hinauf. Mich und die Frau neben mir und die anderen, die gewartet haben. Oben auf dem Gang schaffe ich es zu entwischen, drücke mich flach gegen die Wand, neben einen Schaukasten, ehe wir weitergetrieben werden wie Schafe ans Tageslicht.
Ich versuche, ruhiger zu atmen. Schnelle Schritte kommen von unten. Jetzt bringen sie Karr. Karr unter der weißen Decke, mit Gurten festgeschnallt, Schläuche amArm. Ein Mann geht neben der Trage und hält den Infusionsbeutel hoch wie die Fäden einer zerbrochenen Marionette. Der jetzt rothaarige Karr mit der Sauerstoffmaske, die sein geschundenes, blutverkrustetes Gesicht verdeckt. Ich laufe der Trage hinterher. So nah, wie ich kann, ohne die Sanitäter zu behindern. Ja, das ist Karr. «Wo bringen sie ihn denn hin?», frage ich. «Klinikum Süd», antwortet einer der Männer, ohne sich umzudrehen. Ich folge weiter, die Treppe hinauf und über den Platz vor dem Kaufhaus. Dort wird die Trage in den Notarztwagen gerollt, und die Türen schließen mit einem dumpfen Knall. Der Motor startet. Ich warte, dass sie endlich losfahren. Karr muss doch in ein Krankenhaus! Nichts passiert. Durch die milchigen Scheiben kann man nicht ins Innere sehen.
Der Motor läuft, aber sie fahren einfach nicht! Der Fahrer beugt sich aus dem Fenster, das Funkgerät vor dem Mund. «Weiß einer hier, wie der Junge heißt?»
Ich laufe an den Wagen. Muss schlucken, bevor ich Karrs richtigen Namen sagen kann. Den Namen, der das hier alles ausgelöst hat. «Er heißt Moritz Hassmann.»
Der Mann spricht den Namen in sein Mikrophon. Wiederholt ihn langsamer, hört. Fragt wieder. «Und wo wohnt er?»
Im Grunewald in einer Höhle. Ich zucke die Schultern. «Weiß ich nicht.»
«Telefon?»
«Keine Ahnung.»
«Weißt du überhaupt was?»
«Tut mir leid.» Ich stelle mich am Wagen auf die Zehenspitzen und versuche zu sehen, was hinter den milchigen Scheiben vor sich geht. Warum die nicht fahren.
«Dann geh jetzt mal weg vom Wagen und lass die Leuteihre Arbeit machen.» Er wedelt mit dem Arm aus dem Fenster. «Und nimm deinen Hund mit!»
Hund? Etwas stupst an meinen Oberschenkel. Ich blicke mich um. Der Thursen-Wolf ist hinter mir. Er will mich wegziehen, schnappt nach meiner Jacke, doch ich wische sein Maul beiseite. Trete ein paar Schritte zurück. Warte.
Dann endlich setzt sich der Notarztwagen in Bewegung, langsam zunächst. Blaulicht und Martinshorn räumen ihm den Weg frei. Ich muss nicht hineinsehen können, um mir vorzustellen, wie sie auch noch während der Fahrt um Karrs Leben kämpfen. Um jede Minute, die er durchhalten muss. Ob er es schafft, so ganz ohne Lebenswillen?
Ich kann jetzt nichts mehr tun. Vorhin, da hätte ich ihn aufhalten müssen. Jetzt ist es zu spät. Wütend folge ich dem Thursen-Wolf zu dem Platz, an dem er den ganzen sonnigen Morgen über mit Karr gesessen hat. Vorbei an den Leuten, die in Grüppchen zusammenstehen und das Ereignis bereden, folge ich Thursen. Thursen, der Schuld hat, dass ich das alles nicht verhindern
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