Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Füßen, und es riecht nach frischem Brot. Die junge Frau, ich schätze sie auf Anfang zwanzig vielleicht, stellt mir ein Mineralwasser hin und lässt mich dann allein. Ich brauche kein Mineralwasser. Ich brauche ein Taschentuch. Schon wieder. Bald ist die Packung leer.
Nachdem ich mir ausgiebig die Nase geputzt habe, kommt sie mit einem Foto zurück. «Ich bin Agnetha», sagt sie, als sie sich mir gegenübersetzt. «Du kannst du sagen.»
«Luisa», sage ich, weil ich nicht unhöflich sein will. Luisa. Mehr soll Agnetha über mich nicht wissen. Ich brauche Antworten und kann doch selbst keine geben.
Sie schiebt das Foto zu mir rüber. Langsam, als würde es mit Magnetkräften am Tisch haften. Dann nimmt sie die Hand weg und lässt mich sehen. Die Gestalt auf dem Bild hält meinen Blick fest. Erhitzt, verstrubbelt, glücklich lachend. Das ist Thursen. Nein. Das ist nicht Thursen. Das ist der Junge, der er war, bevor er Thursen wurde.
Ich nicke trotzdem.
«Lars Anton Lund», sagt sie.
Endlich eine Antwort. Ich schließe die Augen und fühle, wie meine Hände mit dem Foto zittern. Er hat braune Augen. Braune Augen und hellbraune Haare. Erschreckt reiße ich die Augen wieder auf, als sie meine Hände packt.
«Jetzt sag mir doch wenigstens, ob er noch lebt!», schreit sie mich an. Ich ziehe meine Hände weg, schlage das Mineralwasserglas vom Tisch, das klirrend auf dem Boden zerspringt. Meine Socken sind nass. Ich will wegrennen, nur raus hier, und tue es doch nicht.
Ja, ich weiß wie es ist, wenn man seinen kleinen Bruder verliert. Soll ich ihr etwa sagen, dass ihr Bruder jetzt im Wald lebt, als Werwolf? Dass er fast einen Menschen getötet hat? Jeden Tag selbst getötet werden könnte? Agnetha, ich kann dir doch nichts sagen! Aber eins muss ich sagen: «Er lebt noch. Kein Verbrechen oder so.»
Sie nickt, steht auf, holt eine Kehrschaufel und beginnt, die Glasscherben aufzufegen. «Ich hatte auch keine Angst vor einem Verbrechen. Ich dachte, er tut es selbst …» Leise kommt ihre Stimme zu mir.
«Warum?», frage ich.
«Unsere Mutter. Sie war schon so lange krank. Depressionen. Er hat sie gefunden, als er aus der Schule nach Hause kam. Sie lag im Schlafzimmer. Tot.»
«Hier? Hier im Haus?»
Die Scherben klirren im Mülleimer. Als der Deckel zuschnappt, spricht sie weiter. «Ja. Oben. Unser Vater wollte das Haus verkaufen. Lars hielt es hier nicht mehr aus. Dann ist er verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Wir haben das Haus behalten. Wollten da sein, falls er zurückkommt.»
«Meine Eltern sind so schnell wie möglich weggezogen, als es vorbei war. Haben alles, was an meinen Bruder erinnert, weggeworfen. Wollten wohl ein neues Leben anfangen.»
Agnetha seufzt. «Hier ist nichts vorbei. Ich lebe in einem Museum. Hier darf nichts verändert werden.» Und dann, dann fragt sie: «Willst du sein Zimmer sehen?»
Ich schiebe meine Hände in die Hosentaschen, damit Agnetha nicht sieht, wie sie zittern. «Darf ich?»
Langsam steige ich hinter ihr die Treppe in den ersten Stock hinauf. Die Stufen knarren unter meinen Füßen, wie es Holztreppen immer tun. Hat Thursen das auch gehört, früher, jeden Tag? Als er noch Mensch war?
Agnetha öffnet die weißgestrichene Tür. Sein Zimmer sieht nicht einmal so besonders aus. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Es ist natürlich keine Werwolfshöhle. Keine Wolfsposter an den Wänden und keine Sammlung von Kerzen. Nicht schwarz gestrichen und kein raschelndes Buchenlaub im Bett. Die Wände sind weiß, und vor dem Fenster hängt stumm ein blaugemusterter Vorhang. Es riecht ein wenig nach Dachbodenkammer, schlecht gelüftet und unbewohnt. Eine Stereoanlage und ein kleinerFernseher stehen rechts vom Fenster an der Wand, ein Bücherregal links neben dem Fenster beim Bett.
So viele Bücher. «Hat er die alle gelesen?»
Agnetha nickt. «Wir mussten immer leise sein, wegen unserer Mutter.»
Auf einem kleinen Tisch steht ein leerer Käfig. «Seine Wellensittiche sind weggeflogen, kurz nachdem er weg ist», sagt Agnetha.
«Und der leere Käfig steht immer noch da.»
Sie schnaubt durch die Nase, wie Thursen das auch so oft tut. «Es ist schon etwas wert, dass mein Vater nicht noch jeden Tag das Trinkwasser im Napf wechselt, damit alles so bleibt, wie es ist.»
Ich kann verstehen, was sie meint. An seinem Schreibtisch lehnt noch Thursens Schultasche. Auf dem Nachttisch liegt ein Harry-Potter-Buch mit einem Zettel als Lesezeichen. Hier hat jemand die Zeit
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