Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Nicht nötig. Solche Leute geben nie etwas. Sjöll hat mir das einmal gesagt. Trotzdem bleibt die Frau ein Stück weiter stehen, dreht sich um, misst Karr mit abschätzigen Blicken, die ihn noch mehr in sich zusammenkriechen lassen. Nein, die Frau kann mir die Laune nicht verderben. Soll die Alte doch denken, was sie will, heute ist mein Tag. Ich hole Luft und schlucke. Beuge mich zu Thursen und hauche es in sein Wolfsohr. «Ich habe etwas herausgefunden!» Mehr nicht. Das Wichtigste sage ich ihm später, wenn wir allein sind, wenn er wieder Mensch ist. Ich will ihm ins Gesicht sehen dabei, in seine grauen Augen. Ich halte seinen Wolfskopf noch in meinen Händen, an mich gedrückt, als die Dicke plötzlich wieder vor uns steht.
«Du!», keift sie. Ihr ausgestreckter Zeigefinger zersticht die Luft vor Karrs Gesicht. «Dich kenne ich doch. Bist du nicht der Moritz? Moritz Hassmann, der damals weggelaufen ist? Weißt du nicht, was du deinen Eltern angetan hast? Schämen solltest du dich! Unglaublich!»
Ich achte nicht mehr auf die Frau. Sehe sie aus den Augenwinkeln eilig weitertrippeln. Aber was ist mitKarr? Er zittert, zittert am ganzen Körper. Fährt sich mit der Hand durch die Haare, die auf einmal brandrot sind. Sommersprossen bohren sich durch seine blasse Haut. Die Farben überschwemmen sein Gesicht. Karr schreit. «Nein!», schreit er. Betrachtet entsetzt seine Hände, seine Arme, auf denen die Sommersprossen wuchern. «Nein, das kann doch nicht sein!» Reißt sich eine Haarsträhne aus, sieht sie an und lässt sie entsetzt auf den Boden fallen, als sei sie verseucht. «Nicht wieder alles von vorn!» Dann springt er auf. Tritt, blind vor Angst, in die Geldschale, dass die Münzen herausspringen und zwischen die Passanten rollen. Es hört sich an, als würde Glas zersplittern. Hände grapschen gierig nach den Euros am Boden. Die Leute, die sich bücken, mit den Händen nach den Münzen tasten, sie sehen nicht auf. Sie sehen nicht, wie Karr die U-Bahn -Treppe mit polternden Schritten hinunterrennt, als würden finsterste Albtraumgestalten ihn hetzen. Wie er, rücksichtslos vor Angst, die Einkaufsmenschen beiseiteboxt. Wo will er denn hin? Ich muss ihm nach, ihn aufhalten! Ihn beruhigen! Ich kann nicht. Etwas hält mich. Nagelt mich fest, wo ich stehe. Knurrend hat Thursen seine Zähne in meine Jacke geschlagen. Unten in den Jackenrücken. Hat seine Beine in den Boden gerammt und lässt nicht los. Ich zerre, ziehe, reiße. Rudere mit den Armen. «Lass mich los!», schreie ich und versuche nach hinten zu schlagen. Versuche, mich zu ihm umzudrehen. Ein Mann will mir helfen, prügelt mit seinem Schirm auf Thursen ein. «Lassen sie ihn. Das ist meiner!» Wie kann der Mann Thursen schlagen? Ich ziehe schließlich den Reißverschluss auf und lasse die Jacke von den Schultern rutschen. Was, wenn Karr schon längst weg ist, verängstigt, verschreckt, hilflos, und ich sehe ihn nie wieder? Endlich habe ich michfreigekämpft. Als ich meine Jacke nur noch an einem Ärmel halte, lässt Thursen los. Thursens gelbe Wolfsaugen machen mir Angst. Er droht nicht. Er weiß etwas, was ich nicht weiß. Was ich mich weigere zu wissen. Ich muss Karr finden. Ich drehe mich um und renne. Ich haste die Treppe hinunter. Erste Ebene. In welche Richtung wollte Karr? Rein in die Stadt? Wahrscheinlich. Weiter runter also. Ich hetze auf den Bahnsteig. Die Anzeige blättert um, und der Zug zeigt seine roten Rücklichter, als er rumpelnd im Tunnel verschwindet. Kein Karr, nirgends. Die andere Richtung? Die, die in den Wald führt? Dann muss es die sein. Wieder hoch. Bin ganz außer Atem, als ich wieder auf dem Gang ankommen. Schon hier fühle ich es: Da ist etwas passiert. Etwas Dunkles. Die Leute, die vom Bahnsteig heraufkommen, sprechen miteinander, ängstlich flüsternd. Begrüßen sich nicht, kennen sich nicht, fragen nur: Was war das? Ich muss weiter, diesmal noch tiefer, zu den Zügen stadtauswärts. Suche Karrs Weg. Diese Rolltreppe fühlt sich an wie die längste Berlins, unendlich tief hinab. Führt sie zum Bahnsteig oder direkt in die Hölle? Ist Karr noch auf dem Bahnsteig? Ich weiß, wie es dort unten aussieht. Ein Gleis nur, das gegenüber, das unbenutzte, von einem hohen Gitter abgetrennt. Als würden dahinter im Tunnel die Gestalten der Tiefe hausen wie in einem Käfig. Die Rolltreppe steht. Abgeschaltet und gesperrt. Oben schon stoppt mich rot-weißes Flatterband. Von unten kommen Menschen die feste Treppe hinaufgestiegen. Ich
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