Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Wie teilt man jemandem mit, ob man ihm zutraut, die Sache durchzuführen, zu der er sich berufen fühlt?
Und dann klingelt mein Handy, ganz unspektakulär, und Josias sagt mir, dass eine Entscheidung gefallen sei. Ich soll in die Zentrale kommen. Dann wird man sie mir mitteilen.
Und zum ersten Mal seit langer Zeit erinnere ich mich daran, wie es ist, wenn man Angst hat.
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5. Luisa
In der S-Bahn lasse ich mich, den Kopf ans Fenster gelehnt, durchrütteln. Meinen Blick ins Nichts gerichtet, den Kopf leer, zieht die Zeit, die langweilige, viel zu lange Fahrzeit, an mir vorüber. Gleich bin ich bei Thursen.
Draußen hat es in dicken, pappigen Flocken zu schneien begonnen. Ich ziehe die Kapuze, die ich in der Bahn abgenommen hatte, fest um mein Gesicht und grabe meine Hände in die Jackentaschen. Blinzele gegen den Schnee, der sich in meinen Wimpern verfängt. Eine Haarsträhne, die unter dem Rand der Kapuze hervorgerutscht ist, klebt nass wie ein gekringeltes Muster aus tauendem Eis auf meiner Wange.
Der graue Himmel verdeckt die Sonne und lässt den Mittag wie Abend aussehen. Ich habe die Zeit verloren, bin irgendwann letzte Nacht herausgerutscht aus dem Muster von Stunden und Minuten.
Thursen. Die Gegend, in der er lebt, seine Gegend umfängt mich wie ein magnetisches Feld, zieht mich zu ihm. Es ist, als könnte ich in allem hier schon einen Zipfel seiner Nähe spüren. Trotz der Kälte werde ich schneller. Zögere plötzlich. Was, wenn ich mir etwas vormache? Wenn er gar nicht da ist?
Doch dann, ich bin gerade erst am Gartentor angelangt, springt, schon bevor ich den Klingelknopf berühren kann, die Haustür auf, und er steht da. Hat er mich kommen sehen, oder hat er meine Nähe gespürt wie ich seine? «Luisa?», ruft Thursen überrascht, öffnet mir mit dem Summer die Pforte. Kommt mir auf dem Gartenweg entgegen. «Hey, du bist es ja wirklich!»
Meine Arme schlingen sich fast von selbst um seinen Hals. «Ich musste dich sehen. Unbedingt.»
Er umfasst mich, zieht mich an sich. «Ich kann’s mir denken.»
«Was kannst du dir denken?» Hat er den Fernsehbericht auch gesehen?
«Ich habe es ganz vergessen», flüstert er ganz nah an meinem Ohr. «Es macht dir ja nichts aus, dass unsere Silvesternacht ausgefallen ist.»
Da ist weiße Farbe in seinem Haar. Winzige Punkte wie Silberstaub, die nach und nach von den Schneeflocken überdeckt werden. «Ich habe doch schon zugegeben, dass das eine Lüge war.»
Thursen lächelt, zieht mich ins Haus und schließt die Tür hinter uns. Lehnt seine Stirn gegen meine. «Du hast mir gefehlt, Luisa», flüstert er, während ich mich aus meiner Jacke winde. Ich versuche, meine Hände auf seinen Schultern abgestützt, mit meinem Mund seinen zu treffen und gleichzeitig die Stiefel von den Füßen zu schütteln.
«Komm!», flüstert er. «Außer uns ist niemand im Haus.» Er ergreift meine Hand und zieht mich vorbei an den Malersachen, Farbeimer, Fellrolle und Abstreifgitter, die den Flur versperren. Die weiß bekleckerte Leiter lehnt an der Wand, kurz vor der Treppe. Wir bleiben stehen, und diesmal gelingt der Kuss. Macht hungrig auf den nächsten. Als ich mich hinter ihm an der Leiter vorbeigedrängt habe, greift er nach mir und zieht mich zu sich hinauf auf die erste Treppenstufe. Wir umarmen uns, küssen uns, umkreisen uns, drücken uns gegenseitig an die Wand, wie ein taumelndes Karussell. Stufe um Stufe drehen wir uns nach oben.
Im Gang vor seinem Zimmer werden unsere Küsse länger und intensiver. Er gräbt seine Hand in mein Haar, umfasst meinen Hinterkopf, drückt seinen Mund auf meinen, während er mich an der Schulter mit sich zieht. Die Vorhänge sind geschlossen, es ist fast dunkel in seinem Zimmer. Ich brauche kein Licht, um zu wissen, wie Thursen aussieht. Ich kenne die Form seiner Schultern, seiner Arme, seines Rückens mit geschlossenen Augen. Ich kann sie fühlen, als ich sein Shirt beim Saum greife und ihm rasch über den Kopf ziehe. Meine Finger federleicht über seine Brust tanzen lasse. Ich kenne die verborgenen Muskeln, die seinem schlanken Körper die eiserne Kraft geben. Meine Hände umrunden die Schatten, die das müde Licht, das zwischen den Vorhängen hindurchfällt, auf seine Haut malt. Ich küsse ihn und atme seinen Geruch. Er legt seine Arme um mich, lässt seine Hände unter meinen Pullover kriechen. Dirigiert mich zum Bett, lässt uns beide darauffallen und küsst mich. Mit einer schnellen Bewegung zieht er mir den
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