Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
fester um meine Schultern. Bestimmt kommt mein Zittern von der Kälte.
«Was hätte ich denn tun sollen? Ich musste doch den Verdacht von den Werwölfen ablenken.»
«Thursen, niemand glaubt an Werwölfe!»
Er seufzt. «Wenn du wüsstest!»
Ich kann einfach nicht begreifen, was er da sagt. «Das ist doch Unsinn! Die Polizei hätte höchstens angenommen, dass ein Rudel verwilderter Hunde unterwegs ist. Und das werden sie früher oder später sowieso, schließlich kann man bei einer Obduktion sofort rauskriegen, woran das Opfer wirklich gestorben ist!»
«Die falsche Spur verschafft den Werwölfen wenigstens Zeit.»
«Zeit wozu?»
«Zur Vernunft zu kommen? Abzuhauen? Zu verschwinden? Was weiß ich!»
«Und du fälschst Beweise, um sie zu decken? Du willst also nicht, dass Mörder ihre Strafe kriegen?»
«Natürlich will ich das! Ich will nur nicht, dass irgendjemand die Werwölfe allesamt umbringt!»
«Umbringt? Die Todesstrafe ist schon lange abgeschafft!»
«Seit wann urteilen Richter über Werwölfe? Meinst du, die holen ein Gutachten darüber ein, ob man als verwandelter Wolf voll zurechnungsfähig ist? Oder kriegen Werwölfe vielleicht bei Vollmond mildernde Umstände?»
«Du schützt Mörder!» Ich werfe sein Shirt nach ihm, nehme meinen Pullover und ziehe ihn über. Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich muss weg, ich kann Thursen nicht in die Augen sehen, nicht verstehen, warum er sich auf die Seite von Norrock stellt, warum er Mörder schützt. Jemand ist gestorben. Ein Junge, mit einer Familie. Mit Eltern, mit einer Schwester vielleicht, die ihn vermissen. Deren Leben gerade in diesem Augenblick zerbricht. Für die es nie wieder so sein wird wie vor dieser Silvesternacht.
«Wo willst du denn hin?» Er hebt sein Shirt vom Boden auf.
«Weg!»
Im Flur schalte ich das Licht an, blinzele ein paar Schritte lang in die Helligkeit, bis sich meine Augen daran gewöhnt haben. Dann steige ich die Treppe runter, dränge mich an der Leiter vorbei und nehme mir meine Stiefel. Ich bin gerade in einen reingerutscht, da kommt Thursen mir hinterher, lehnt auf der vorletzten Treppenstufe an der Wand.
«Was genau ist los? Warum bist du so wütend?»
Ich lehne den Kopf in den Nacken, um Thursen nicht ansehen zu müssen. Die Tapete über mir ist tatsächlich vergilbt, wie tausendmal gelesene Buchseiten, das ist mir bislang nie aufgefallen. Dort, wo die Decke an die Wände stößt, wo bei Tageslicht die Schatten hocken, ist die Tapete jetzt im Lampenlicht bräunlich wie altes Laub.
«Du redest also mal wieder nicht mehr mit mir?»
«Wundert dich das? Du ermöglichst es einem Pack von Mördern, weiter zu morden. Es ist dir egal, dass jemand gestorben ist. Dass irgendwo eine Familie ist, der es dreckig geht.»
«Darum geht es also», sagt er leise und kommt langsam die letzten Stufen herunter. «Es ist mir nicht egal, aber es gibt nichts, was ich tun kann. Der Junge ist tot. Ich will nur, dass er der einzige Tote bleibt. Möchtest du wirklich, dass die Werwölfe gejagt werden? Man wird sie alle umbringen, und nicht nur die, die für den Mord verantwortlich sind, sondern alle. Auch Zrrie, auch Rawuhn. Ist es das, was du willst?»
Will ich das? Ich sehe die Jäger vor mir, wie sie durch den Wald marschieren, ihre Gewehre geschultert, auf der Suche nach einem gefährlichen Rudel verwilderter Straßenköter. Thursen hat recht. Niemand bringt wildernde Hunde vor Gericht. Aber wenn wir sie entkommen lassen, wird niemand von ihnen eine Strafe erhalten.
Thursen steht jetzt ganz dicht vor mir. Ich hebe den Blick und sehe ihn an. Verdammt, wir spielen wieder unser altes Spiel. Genau wie im letzten Jahr, als er mir gesagt hat, dass er ein Werwolf ist. Und noch viel zu viele Male seitdem. Er erschreckt mich, und ich fliehe. Und komme zurück, um erneut zu fliehen. Ich sollte –
«Luisa.» Thursen bleibt ganz nah vor mir stehen und sieht mich an. «Bitte geh nicht.»
Da steht er im blassen Licht der Flurbeleuchtung und ist trotzdem so schön, dass ich kaum atmen kann. Dass ich nur stumm nicke und auf ihn zugehe. Ich liebe ihn, und die Wut wird davon nicht im mindesten kleiner. Sie ist nur nicht mehr das Wichtigste von allem. Wie Feuer, das hinter einer Scheibe lodert: Es ist noch da, brennt noch genauso, aber es kann mich nicht mehr versengen.
«Ich bleibe bei dir», sage ich.
Es ist so still im Haus. Als würde der Schnee draußen auch die Geräusche hier drinnen ersticken. Die Treppe knarrt unter unseren
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