Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
aus unserem Leben zu löschen, dass ich nie wirklich darüber nachgedacht habe, warum sie das getan haben. Es stimmt, meine Mutter konnte mir nicht dabei helfen, mit meiner Trauer umzugehen. Aber ich konnte ihr ebenso wenig helfen. Und wahrscheinlich hätte sie mich genauso gebraucht wie ich sie.
«Ich habe mich krankschreiben lassen, und ich dachte, ich werde für eine Weile zu Anja ziehen.» Meine Mutter seufzt. «Ich brauche Hilfe und nicht sie. Ich brauche ein bisschen Zeit, ein bisschen Ruhe, um nachzudenken. Meinst du, du kommst ein paar Wochen ohne mich aus?»
«Ja, natürlich. Ich kann dich ja anrufen, wenn etwas ist.» Aber nur, wenn das Haus abbrennt oder der Kühlschrank explodiert oder ein Tornado Berlin verwüstet. Sonst, schwöre ich mir, lasse ich sie in Ruhe. Vielleicht ist es meine einzige Chance, dass ich irgendwann wieder eine Mutter habe. «Wo gehst du hin?», frage ich, als sie aufsteht.
«Packen», sagt sie, schon in der Zimmertür.
«Moment mal, wann willst du denn fahren?»
«Luisa, ich bin jetzt krankgeschrieben, nicht erst in ein paar Wochen. Ich kann nur jetzt fahren oder gar nicht.»
«Ich mach uns dann mal Abendessen», sage ich.
Gerade, als ich den Abendbrottisch gedeckt habe, kommt meine Mutter wieder aus dem Schlafzimmer und setzt sich zu mir.
«Schon gepackt?», wundere ich mich.
«So viele Sachen habe ich ja nicht.»
«Natürlich.» Ich nicke. Ihre Kleidung hat sie in Hamburg zurückgelassen und sich hier in Berlin alles neu gekauft, in gedeckten Trauerfarben.
«Hättest du an meiner Stelle den Pulli noch mal anziehen können, den du getragen hast, als der Arzt, na ja, bei dem Gespräch. Du weißt schon.»
Ich weiß schon. Und sie traut sich immer noch nicht, es auszusprechen. «Als die Ärzte euch gesagt haben, dass Fabi sterben wird? Nein, wahrscheinlich nicht.» Aber das heißt nicht, dass ich ihn gleich in die Mülltonne gestopft hätte, als sei er ein benutztes Papiertaschentuch.
«Hier ist meine EC -Karte, wenn du Geld brauchst. Und hier die Geheimzahl. Meinst du wirklich, du kommst allein zurecht? Wenn du Bedenken hast, fahre ich nicht!»
«Und was dann? Meinst du, mir tut es gut, wenn ich zusehen muss, wie du dich quälst?»
«Mir hat es letztes Jahr auch nicht gutgetan, zuzusehen, wie du dich quälst. Erst Fabi und dann du.»
«Ich sterbe ja nicht.» Jetzt nicht mehr. Nicht mehr, nachdem Thursen mich gerettet hat. Und auf einmal ist mir so, als hätte ich nach langer Zeit wieder eine Mutter. Eine zerstörte, ausgelaugte Mutter, aber zum ersten Mal, seit wir nach Berlin gezogen sind, habe ich so etwas wie Hoffnung. Vielleicht hört sie endlich damit auf, die einstudierte Rolle einer Mutter abzuspulen. Es wird zwischen uns nie wieder werden, wie es war. Ich werde nie wieder das Kind sein können, das blind darauf vertraut, dass mich meine Mutter auch in den schlimmsten Momenten auffängt. Als Fabi gestorben ist, hat sie mich fallenlassen, und ich bin hart und schmerzhaft aufgekommen.
Doch langsam beginne ich zu begreifen, wie tief sie selbst gestürzt ist. Wie hätte sie da noch jemand anders auffangen können? Wie soll man einen Ertrinkenden retten, wenn man selbst nicht schwimmen kann?
Als wir aufgegessen haben, will ich die Teller zusammenstellen. Doch sie steht auf und legt mir die Hand auf die Schulter.
«Lass mal, ich mach das, das lenkt mich ein bisschen ab.» Meine Mutter räumt den Abendbrottisch ab. Ich höre sie in der Küche mit dem Geschirr klappern. Das Frühstück morgen wird die letzte Mahlzeit sein, die ich in dieser Wohnung nicht ganz alleine esse.
Den ganzen Abend über höre ich Musik, damit ich das Weinen aus dem Schlafzimmer nicht hören muss. Ich kann ihr nicht helfen, nur hoffen, dass es ihr irgendwann bessergehen wird.
Dann ist es plötzlich nächster Morgen und viel zu spät. Meine Bettdecke, verdreht um mich geschlungen, fesselt meine Beine. Die abgenutzte Luft in meinem Zimmer hält den Schlaf in meinem Kopf. Doch der Wecker sagt, ich müsste schon aus der Tür sein. Hektisch befreie ich mich aus dem Bett. Niemand hat mich geweckt. Meine Mutter schläft noch. Schläft endlich? War sie wieder die ganze Nacht wach? Ich weiß es nicht. Jetzt jedenfalls ist es still in ihrem Zimmer. Ich renne. Schütte kaltes Wasser in mein Gesicht und ziehe irgendwelche Kleidung aus meinen Schränken. Zerre die Bürste durch die schlafverwühlten Haare. Schnell Jacke an und die Schuhe. Ich bin schon an der Tür, meine Tasche über der Schulter, als
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