Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
er nicht glücklich, dass seine Diebesbeute verschwunden war!»
«Machst du solche Sachen immer noch?»
Er zuckt die Schultern. «Ich mische mich immer ein. Ich kann einfach nicht zuschauen, wenn andere leiden, ohne zumindest zu versuchen, etwas dagegen zu unternehmen.»
«Ja, es ist schlimm, Menschen leiden zu sehen», sage ich. So leise, dass ich nicht weiß, ob er mich überhaupt versteht. «Aber es gibt auch Leid, gegen das man nichts tun kann.»
«Man kann so viel tun! Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, aber alles ist besser, als nichts zu tun. Deshalb arbeite ich ehrenamtlich. So habe ich das Gefühl, wenigstens ein bisschen helfen zu können.»
«Und was genau machst du da? Ich dachte immer, ehrenamtlich arbeiten nur gelangweilte alte Damen?»
Er lacht. «Wenn du magst, kann ich dich ja mal mitnehmen zu meinem Job. Dann kannst du dir selbst einen Eindruck machen.»
«Vielleicht sollte ich das tun. Was genau machst du denn?»
«Ich arbeite im Krankenhaus und unterhalte kranke Kinder.»
Es ist nur ein Satz.
Dieser eine Satz vom Krankenhaus, der mir das Gefühl gibt, jemand habe die Luft durch etwas Zähes ersetzt, das ich nicht mehr in meine Lungen bekomme. Im Krankenhaus sterben Kinder. Brüder. Meine linke Hand umklammert heimlich die Tischkante.
«Verschluckt? Hier trink was, das hilft!», sagt Elias, betrachtet mich besorgt und hält mir meine Teetasse hin.
Ich ergreife sie dankbar und trinke. Nicht weil ich mich wirklich verschluckt habe, sondern weil ich mein Gesicht dahinter verbergen kann. Wenigstens ein paar Schlucke lang. «Morgen bin ich dort. Hast du da vielleicht Zeit?»
Nein! Nein, ich will nicht. Doch da ist irgendwas in seinem Blick, das mich trotzdem nicken lässt. Kein mitfühlendes Lächeln, aber trotzdem kommt eine Art Wärme bei mir an. Gestern hatte ich schließlich auch den Mut, meine Angst zu besiegen. Langsam lässt meine linke Hand den Tisch los.
Elias nimmt es zufrieden zur Kenntnis. «Ich hole dich ab. Passt dir halb fünf?»
«Ja.» Mein freundliches Lächeln ist immer noch nicht wirklich echt, und er merkt es.
«Ist alles okay, Luisa?»
Ja, ich mag Elias. Aber ich kenne ihn kaum, und ich kann ihm nicht von meinem Bruder erzählen, nicht hier, nicht jetzt. «Ja, alles in Ordnung.»
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14. Elias
Ich habe sie überfordert. Habe sie Ausdauertraining machen lassen und dann über das Dach geschickt. Hundert Liegestütze mit Blick auf Berlin. Dann sollten sie paarweise miteinander ringen. Einmal sollten sie Wut fühlen, einmal den Willen zu siegen spüren. Doch meine Rechnung ist nicht aufgegangen. Die Gefühle, so schwach sie auch waren, haben ihnen Angst gemacht. Jetzt streiken sie, sitzen im Speiseraum und diskutieren darüber, ob «zu verrohen» der richtige Weg sei. Sie haben nichts verstanden. Massieren ihre schmerzenden Muskeln und sind erschrocken über sich selbst. Adrian hat mich zu Boden geworfen und sich dann, statt sich über seine Kraft zu freuen, hundertmal entschuldigt. Meine zukünftigen Kämpfer überlegen, dass sie lieber ihre Kenntnisse in Erster Hilfe vertiefen wollen, als zu kämpfen. Reanimation mit tragbaren Elektroschockgeräten. Was soll ich mit ihnen anfangen? Sie glauben, sie seien den Menschen nur moralisch überlegen. Doch wir sind keine Menschen. Wir sind Shinanim. Wir müssen unsere Fähigkeiten wiederentdecken, unseren Körper trainieren, dann sind wir den Menschen weit überlegen. Nur dann können wir etwas verändern. Wir müssen lernen zu kämpfen. Das müssen sie endlich begreifen. Nur mit Moral und guten Worten gewinnt man keine Schlachten. Das ist der Grund, warum ich sie hier um mich versammelt habe. Damit das Erbe unserer Vorfahren in ihnen erwacht und sie zu Wächtern der Menschen werden. Doch stattdessen tun ihnen jetzt schon diejenigen leid, die sie verletzen könnten mit ihrer Kraft.
Wie soll ich meinen Shinanim klarmachen, was Menschen sich gegenseitig antun? Wie grausam sie miteinander umgehen? Dass manchmal nur machtvolles Einschreiten Schlimmes verhindern kann und freundliches Diskutieren an einige Menschen komplett verschwendet ist?
Doch meine Shinanim glauben mir nicht. Selina hat mich gefragt, woher ich denn wissen will, wie rücksichtslos die Menschen auf der Straße sein können. Ich, der wohlbehütete Sohn aus gutem Hause. Ich, der Liebling der Shinanim. Immer untadelig, immer fleißig. Sie wissen nichts über mich. Aber das wollte ich ja so. Also stand ich nur schweigend vor ihr und konnte
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