Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
meiner Angst von mir abfällt, bemerke ich, wo ich bin. Das hier ist kein bisschen wie das Wolfslager, das ich kenne. Thursens Rudel reichte die unauffällige Lichtung im Wald. Doch dies ist jetzt Norrocks Rudel, und alles ist anders. Schäbige Planen bilden Zelte. Schmutzverschmiert und trotzdem noch viel zu grellbunt für den Wald. Erdhaufen, aufgeworfen beim Höhlengraben. Von niedrigen Ästen hängen zerschlissene Decken wie Bühnenvorhänge. Der Boden dazwischen ist zertrampelt. Ein Mensch stochert im Feuer in der Mitte des Lagers, ringsum liegen ein paar Holzklötze. Und in versteckten Winkeln zwischen den Zelten haben sich Wölfe zusammengerollt und verdösen den Tag. Rawuhn bleibt an meiner Seite, als sie jetzt einer nach dem anderen aufstehen und zu mir herüberkommen. Bis sie ganz nah bei mir sind. Fremde Wölfe, die mich misstrauisch umkreisen. Beriechen. Es sind Werwölfe. Doch sie sind kein bisschen mehr wie Menschen. Sie sind nicht mal wie Wölfe. Sie bewegen sich wie irgendetwas Anderes, Fremdartiges, während sie ihren Blick über mich schweifen lassen.
Dann endlich, als die Sonne durch die kahlen Kronen der Bäume scheint, als hätte jemand ein Tuch weggezogen, erkenne ich doch noch alte Bekannte. Da ist Jerro, da Fath. Krestor. Lurnak.
Ein Junge, schwarzhaarig und ungefähr so alt wie ich, klatscht Mauriks ab. «Alles klar?», fragt er und sieht mich an.
«Frag ihn!», sagt Mauriks und wendet sein Gesicht zu dem mächtigen schwarzen Wolf, der mit langsamen Schritten hinter einer Plane hervorkommt. Sich schüttelt und mitten in der Bewegung hintenüber auf zwei Beine kippt. Mensch wird. Norrock.
«Was soll denn der Zirkus hier?», fragt er Mauriks und Haddrice.
«Die haben wir im Wald gefunden», sagt Haddrice. «Sie wusste ein bisschen zu gut Bescheid über uns.»
«Ich war an meinem Trauerbaum, Norrock!»
«Immer noch Trauer um deinen Bruder?»
«Meinst du, das kann man abwaschen wie Dreck an den Händen?»
«Sie hat uns als Werwölfe erkannt», sagt Haddrice, während sie ihr Halstuch richtet, das meine Augenbinde war.
«Klar, sie kennt ja auch genug Werwölfe.»
«Woher weißt du, dass sie keine von denen ist?» Haddrice betont das «von denen», als würde sie über eine geheime Weltverschwörung reden.
«Von denen?» Norrock fasst mir unters Kinn. «Meine Güte, Haddrice, guck sie dir doch an!»
Wütend schlage ich seine Hand weg. Doch er lacht nur.
Haddrice verzieht keine Miene. «Du weißt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis unsere Feinde wissen, wer den Menschen im Wald gerissen hat. Dann jagen sie jeden, der von uns weiß. Jeden, der sie auf unsere Fährte bringen könnte. Selbst wenn sie keine von ihnen ist, was, wenn sie ihnen in die Hände fällt? Norrock, du musst das Problem endgültig lösen.»
Er guckt die Wölfin einen Moment erstaunt an, dann lacht er ihr ins Gesicht. «Ach, so hast du dir das gedacht, Haddrice?» Norrock packt mich ohne Vorwarnung bei den Haaren, zieht mir den Kopf nach hinten und bietet Haddrice meinen Hals an. «Nein, meine Liebe, wenn du sie zum Schweigen bringen willst, musst du ihr schon selbst die Kehle durchbeißen, ich mach das nicht.»
«Hör auf! Lass mich los, Norrock!», schreie ich. Ich schlage mit den Armen hinter mich, ohne ihn zu erreichen. Krümme die Finger wie Krallen. Finde seine Hände in meinem Haar und schlage die Fingernägel hinein. Endlich lässt er los.
«Das ist Luisa!», sagt er. «Thursens Luisa. Luisa, geh jetzt», knurrt er, hört sich fast wie der Wolf an, der in ihm wohnt. «Wenn du weißt, was gut für dich ist, machst du, dass du wegkommst, aber schnell!»
Ich schrecke zurück, aber da ist schon Haddrice. Sie verstellt mir den Weg. Sieht über meine Schulter hinweg Norrock in die Augen. «Es ist mir egal, wer sie ist. Lass sie gehen, und ich fordere dich zum Zweikampf um die Rudelführung, Norrock.» Ihr Mund kräuselt sich höhnisch, als Norrock leise fluchend die blutigen Spuren meiner Fingernägel auf seiner Hand inspiziert. «Du sagst also, sie ist das Mädchen vom legendären Thursen, dem kühnen Leitwolf, der sich dann auf einmal einfach verdrückt hat.» Haddrice starrt mir in die Augen. «Da kommt also ein ganz normales Mädchen, spaziert mitten in ein Werwolfslager, lebt unter den Wölfen, verwandelt sich selbst nicht. Stattdessen bringt sie den Leitwolf, und nicht irgendeinen Leitwolf, sondern Thursen, dazu, ihr zu folgen und sein Rudel sich selbst zu überlassen. Ein bisschen viel Macht hat das
Weitere Kostenlose Bücher