Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Mädchen, findet ihr nicht? Wo hat Thursen sie noch gleich gefunden, sagt ihr?»
«Auf dem Grunewaldturm», sagt Norrock.
«Hoch oben auf einem Turm! Sieh mal an.» Haddrice schaut sich im Lager um. Sucht die Blicke der anderen Wölfe. «Was meint ihr, ob sie wirklich nur ein Mensch ist?»
Da kommt eine andere Werwölfin in Menschengestalt auf Haddrice zu. «Wie willst du das denn herausfinden?», fragt sie mit rauer Stimme und hält Haddrice ein großes Fleischermesser hin. «Willst du sie aufschneiden und nachgucken, wie sie von innen aussieht, oder was?»
Ist das Zrrie? Wirklich Zrrie, die da spricht? Nichts erinnert mehr an das Kind, das sie noch vor ein paar Monaten war.
Haddrice schnaubt durch die Nase. «Behalt dein Messer, Zrrie. Das ist ganz einfach. Heute feiern wir Wolfsnacht. Heute nehmen wir einen neuen Werwolf in unser Rudel auf.» Haddrice lächelt. «Lassen wir Luisa sich doch auch verwandeln! Wenn sie eine von denen ist, wird sie es wohl kaum überleben, oder?»
Ich habe schon im Wolfskreis gesessen. Habe die Macht gespürt und hätte mich verwandelt, wenn Thursen mich nicht aus dem Kreis gerissen hätte. Ich habe Zrries erste Verwandlungen erlebt. «Warum zum Teufel sollte ich dabei sterben?»
«Wir werden sehen.»
«Nein, werden wir nicht! Du hast Norrock gehört. Deinen Leitwolf! Ich gehe jetzt nach Hause.»
«Sei vorsichtig mit dem, was du sagst», grollt Haddrice. «Wenn du versuchst, vor der Verwandlung zu fliehen, überlebst du das mit Sicherheit nicht!»
Ich wende mich an den breitschultrigen Mann. «Mach diesem Scheiß ein Ende, Norrock!»
«Mach ich ja. Ich werde dich persönlich durch die Verwandlung begleiten.» Norrock legt mir amüsiert den Arm um die Schulter, beruhigt mich, als würde ich mit Haddrice über das Fernsehprogramm streiten. «Meine Güte, Luisa! Gönn Haddrice doch ihren Spaß. Eine Verwandlung, was ist das schon? Hast du Hunger?»
«Hunger?» Ich fasse es nicht! Ich versuche, mein Selbst vor der Verwandlung in ein Tier zu retten, das Versprechen zu halten, das ich Thursen gegeben habe, und er fragt mich, ob ich was essen will?
«Immer noch Essstörungen, Luisa? Du bist auch verdammt dünn. Ich habe jedenfalls Hunger und die anderen auch. Und außerdem musst du ja stark sein für die Verwandlung!» Er weist mit einem Kopfnicken hinüber zu dem Feuer, das in einer rostigen Lastwagenfelge brennt. Die Werwölfe in menschlicher Gestalt haben sich mittlerweile auf alte Fässer, Säcke, Kästen und Holzklötze um das Feuer herum gesetzt. Dazwischen liegen die Wölfe und wärmen sich den Pelz.
«Ich würde an deiner Stelle übrigens wirklich nicht versuchen, abzuhauen», sagt Norrock. «Was meinst du, wie lange ein Dutzend Wölfe braucht, dich zur Strecke zu bringen?»
«Luisa!» Zrrie sitzt auch schon am Feuer und klopft neben sich auf eine alte Lattenkiste. Ich setze mich neben sie, strecke meine Hände den knacksenden, sich windenden Flammen entgegen. Angst und Anstrengung haben die letzte Wärme aus meinem Körper vertrieben.
«Hier», Zrrie gibt mir einen langen, rotrostigen Metallstab in die Hand. Das eine Ende ist blank gescheuert und steckt in einem faustgroßen Fleischstück. Das andere Ende ist mit einem Lappen umwickelt, damit man sich nicht die Hand verbrennt. «Das kannst du dir braten.»
«Was ist das?»
Sie zieht einen Mundwinkel hoch. «Was schon? Fleisch.»
«Danke», sage ich, «auch für deine Hilfe vorhin.»
«Schon gut.» Die Flammen malen helle Flecken und dunkle Schatten auf ihr Gesicht. Mein Gott, Zrrie hat sich so verändert! Sie war doch ein Kind! Jetzt ist nichts Kindliches mehr an ihr. Wie kann sie in den paar Wochen um so viel gealtert sein? Ihr Gesicht ist kantiger und ihr Blick wissender geworden, als hätte sie ein lang gehütetes Geheimnis endlich verstanden. Die Farben sind aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihre Haare sind länger, fallen ihr in Wellen über die Schultern, nicht mehr braun, sondern grau, fast schwarz. Am meisten vermisse ich das vertraute Grünbraun ihrer Augen. Jetzt sind es bleifarbene, metallisch glänzende Seen. Es macht sie entsetzlich fremd.
«Ich weiß, dass ich mich verändert habe, Luisa», sagt sie. «Ich bin jetzt ein Werwolf. Was hast du denn erwartet?»
Ich drehe mein Fleisch über dem Feuer. «Ich weiß nicht, bist du noch die Zrrie, die ich kannte?»
«Du kanntest mich nie. Aber so ganz anders bin ich nicht, wenn du das meinst.»
«Was ist hier los, Zrrie? Was meint Haddrice mit ‹eine von
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