Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
albtraumlos, denn er ist da. Bin dankbar, dass sein Bett so schmal ist, dass ich jedes Mal, wenn sich einer von uns umdreht, ein bisschen wach werde. So kann ich jedes Mal wieder fühlen, dass er noch bei mir ist.
Das Klingeln meines Handys weckt mich. Schnell bringe ich es zum Schweigen, rutsche aus dem Bett und lasse Thursen zurück, der immer noch wie ein Toter schläft. «Ja?», flüstere ich und schleiche hinaus in den Flur. Mein Vater ist dran. Sein Ton ist eisig.
«Ich wüsste gerne, wo du jetzt steckst», sagt er.
Ich schließe die Tür von Thursens Zimmer hinter mir, um ihn nicht zu wecken, bevor ich antworte. «Es ist Sonntag und noch total früh! Das ist doch nicht das erste Mal, dass ich nachts weg bin!»
«Ich habe gerade erfahren, dass du allein ohne Aufsicht in der Wohnung bist. Natürlich bin ich sofort hingefahren.»
«Vati! Was soll denn das? Das ist doch mit Mama abgesprochen.»
Doch er tut so, als hätte er mich gar nicht gehört. «Und dabei ist alles noch viel schlimmer! Du bist nicht einmal hier, sondern treibst dich sonst wo herum!»
«Ich bin nicht sonst wo. Ich bin bei –»
«Du kommst jetzt nach Hause. Und da deine Mutter mal wieder nicht in der Lage ist, sich um dich zu kümmern, muss ich das wohl tun.»
«Nein, ich bleibe hier!»
«Luisa! Sofort, oder ich rufe die Polizei! Vergiss nicht, dass du noch minderjährig bist.»
«Aber ich …»
Mein Vater hat aufgelegt.
Einfach aufgelegt! Ich bin hellwach, meine Wut hat sämtliche Müdigkeit vertrieben. Mühsam bringe ich mich selbst zur Ruhe. Vielleicht sollte ich meinem Vater mal erklären, was eigentlich vor seiner Nase passiert, während er sich weigert hinzuschauen.
Vorsichtig rüttle ich Thursen an der Schulter. «Mein Vater hat angerufen. Er spinnt total. Ich muss nach Hause.»
Thursen bemüht sich, wach zu werden, reibt sich das Gesicht. «Soll ich mitkommen?»
Ich schüttle den Kopf. «Er behauptet, ich treibe mich rum. Wenn ich da jetzt mit dir zusammen auftauche, macht es das nur noch schlimmer.»
«Was will er denn von dir?»
«Keine Ahnung. Wahrscheinlich braucht er jemanden, an dem er seine Wut ablassen kann. Ich rufe dich nachher an, wenn», ich stocke kurz, «wenn du dann da bist.»
«Sonst ruf mich auf dem Handy an.»
«Schlaf dich aus», sage ich. Sammle meine Klamotten zusammen und husche ins Bad.
Ich fahre nach Hause. Fast hoffe ich, die U-Bahn würde extra lange brauchen. Ich möchte mich nicht wieder mit meinem Vater streiten. Ich habe mir gewünscht, dass er zurückkommt und wieder bei uns einzieht. Aber doch nicht so! Ich hatte auf eine Versöhnung gehofft, die von ihm ausgeht! Darauf, dass er einsieht, dass er uns im Stich gelassen hat, meine Mutter und mich. Auf Reue hatte ich gehofft und nicht darauf, dass er sich zähneknirschend zu meinem Gefängniswärter aufschwingt. Wieder einmal macht mein Vater alles nur schwieriger. Ich wette, er hat meiner Mutter am Telefon nichts als Vorwürfe gemacht! Wie soll sie sich da erholen? Und warum kann er nicht einmal darauf vertrauen, dass ich ohne seine guten Ratschläge zurechtkomme?
Ich reibe meine Handrücken, die plötzlich unter meiner Wut anfangen zu kribbeln. Ich könnte dunkles, struppiges Fell über mich wachsen lassen. Es wäre so einfach.
In unserem Hausflur treffe ich die alte Dame, die in der Wohnung über unserer wohnt. «Guten Tag», sage ich automatisch. Statt zu grüßen legt sie wortlos ihre Hand auf meinen Arm. Lächelt mir aufmunternd zu. Es ist, als hätte ich einen weiteren Trauerfall erlitten. Wieso ist sie auf einmal so mitfühlend? Ich dachte immer, sie mag mich nicht. Seltsame Frau. Ihr Verhalten macht mir Angst. Was weiß sie, was ich nicht weiß? Ist doch irgendwas mit meiner Mutter? Gibt es etwas, das mein Vater mir nicht am Telefon sagen konnte? Ich steige hastig die Stufen nach oben, stecke meinen Schlüssel ins Schloss und öffne die Wohnungstür.
Stürme atemlos in den Flur. «Vati?» Lausche. In unserem Wohnzimmer höre ich Geräusche. Jemand schiebt etwas über unseren Couchtisch. Bestimmt rückt mein Vater die Vase zurecht, die ich an den Rand geschoben hatte, weil ich Fernsehen gucken wollte. Warum antwortet er nicht?
In unserem Wohnzimmer, auf unserer Couch, sitzt eine fremde Frau. Als ich hereinkomme, lässt sie die Vase sofort los. Steht auf und sieht mich an. Jugendamt? Die Frau erinnert mich tatsächlich im ersten Moment an meine Mutter. Ihr dunkelblaues Kleid mit der Perlenkette hat einen ähnlichen Stil, wie
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