Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
handeln, dann nachdenken. Auf jeden Fall muss ich hier weg, ehe mein Vater mir nachkommt. Jetzt. Ich wünschte, ich könnte zu Thursen. Doch nach der letzten Nacht weiß ich, dass er nicht mehr immer für mich da sein kann. Dass er nicht nur mir gehört. Wir nicht nur einander. Unsere Seifenblasenwelt ist endgültig geplatzt. Verfluchter Wolfseid!
Als das Licht in unserem Treppenhaus angeht, bestimmt ist das mein Vater, laufe ich los, den Koffer hinter mir herziehend.
Und auf einmal weiß ich, wo ich hinkann. Da war ja doch jemand, der mir seine Hilfe angeboten hat! Jemand, der groß, blond und blauäugig ist. Wie gut, dass ich Elias kenne, in dessen WG Zimmer leer stehen, die nur darauf warten, bezogen zu werden.
Ich fahre zum Kurfürstendamm. Weit bin ich noch nicht gekommen, da klingelt mein Handy. Der Klingelton, den ich für meinen Vater eingespeichert habe. Natürlich gehe ich nicht ran. Auch nicht, als gleich darauf jemand mit unbekannter Nummer anruft. Ich bin sicher, dass er es ist, der es noch mal versucht. Wessen Handy mein Vater wohl jetzt ausgeliehen hat, um mich in die Irre zu führen? Das von seiner neuen Freundin?
Vor Elias’ Haus parken große Lkws mit der Aufschrift:
Dornhöfer Films
. Einer hinter dem anderen auf der Busspur. Der Bürgersteig ist mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Leute bleiben stehen, in Gruppen, tuscheln miteinander. Allerdings ist kaum etwas zu sehen. Durch das Fenster neben der Eingangstür leuchtet ein Scheinwerfer ins Haus wie ein riesiges Auge, und an der Eingangstür hängt ein Schild «Achtung! Dreharbeiten». Vielleicht warten die Leute, dass ein Schauspieler aus der Tür kommt? Doch da steht nur ein Mann mit einem Headset vor der Tür, die Arme hinter dem Rücken.
Mein Trolley bleibt an einer unebenen Stelle des Bürgersteigs hängen. Mühsam zerre ich ihn weiter. Meine Schultasche mit den Büchern drückt schwer wie ein Betonklotz auf meine Schulter. Sie haben nicht nur den Vordereingang abgesperrt, sondern auch noch den Durchgang zum Hof. Mir sind die Dreharbeiten egal. Ich muss in das Haus. Jetzt. Doch der Mann mit dem Headset kommt auf mich zu, noch ehe ich mein zweites Bein über das rot-weiße Band geschwungen habe.
«He, Sie, bleiben Sie hinter der Absperrung, ja?»
Ich zeige ihm mein Gepäck. «Ich muss hier durch. Ich will in dem Haus Leute besuchen.»
«Da können Sie jetzt nicht rein!», sagt er. «Können Sie nicht lesen? Dreharbeiten. Wir filmen gleich eine wichtige Szene.»
«Sie können doch nicht einfach jedem den Zugang zum Haus verbieten!»
«Und Sie können nicht mitten durch die Szene laufen!» Dann tippt der Mann an sein Headset. «Ja?» Er nickt, obwohl es niemand sehen kann. «Ick denk, da wohnt keener?» Er guckt mich an wie ein Insekt unter dem Schauglas und sagt noch mal: «Ja.» Und dann: «Moment mal.» Er sieht mich an: «Wie heißen Sie?»
«Luisa.»
«Weiter?»
«Folkert.»
«Okay, Sie sollen reinkommen. Nehmen Sie aber den Hintereingang, ja?» Er läuft mit Riesenschritten voraus zum Hoftor und schließt es auf. «He! Sie nicht!», weist er eine junge Frau mit Autogrammblock zurecht, die sich hinter mir durchschummeln will. Dann schließt er das Tor wieder ab.
Der Innenhof ist vollgestellt mit weiteren Lkws. Manche haben eine kleine Treppe, die zu einem Eingang an der Seite führt. Ein Wagen ist an der Seite aufgeklappt wie ein Imbisswagen. Aufgeregte Leute laufen hin und her, sprechen in ihre Handys, machen sich Notizen. Zum Glück kümmert sich niemand weiter um mich. Unbemerkt schleppe ich meine Sachen ins Haus. Auf dem Weg zum Fahrstuhl kann ich beobachten, wie zwei Schauspieler in Kostümen aus den zwanziger Jahren von den Filmmitarbeitern auf ihre Plätze dirigiert werden. Im Eingangsfoyer liegen Schienen für die Kameras. Überall an den Wänden sind Scheinwerfer angebracht. Die künstliche Scheinwerfersonne lässt den Raum noch unwirklicher erscheinen, als er sonst schon ist. Der mattgraue Wintertag wird so hier drin auf einmal zum goldenen Spätsommerabend. Es ist, als hielte das Haus für die Dreharbeiten die Luft an, damit die Zeit sich nicht weiterdreht. Hier wird mich mein Vater niemals finden, wenn ich es nicht will. Ich steige in den kleinen Gitterfahrstuhl und fahre hinauf.
Zu meiner Überraschung erwartet mich Elias schon in der geöffneten Wohnungstür.
«Luisa?», fragt er besorgt, als ich ihm meine Tasche und den Koffer erschöpft vor die Füße fallen lasse. «Was ist–», er streckt seine Hand
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