Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
meisten Menschen haben das. Aber sie hatte auch genug Vertrauen in mich, dass sie ganz hinaufgestiegen ist und mit meiner Hilfe wieder hinunter. Wahrscheinlich sorge ich mich grundlos. Und doch lässt mich die Erinnerung nicht los, wie sie da stand vor unserer Tür. Dieser Schatten in ihrem Gesicht. Ich muss mich irren. Es kann nicht sein. Der Gedanke ist absurd. Es kann einfach nicht wahr sein.
[zur Inhaltsübersicht]
21. Luisa
Als ich aus der Schule komme, duftet die ganze Wohnung. Raquel hat für uns alle südamerikanisch gekocht. «Das hilft mir gegen Heimweh», erklärt sie, als sie die Schüsseln auf den Tisch stellt. Raquel, das weiß ich inzwischen, ist zum Studium nach Deutschland gekommen. Sie hat lockiges schwarzes Haar, blaue Augen, und ihr Deutsch hat einen warmen, rollenden Akzent.
«Bereit für das Krankenhaus?», fragt Elias, als er mir etwas reicht, von dem Raquel gesagt hat, es sei ein Püree aus schwarzen Bohnen. Ich wusste gar nicht, dass man hier so etwas kaufen kann. Und, nein, ich bin nicht bereit für das Krankenhaus. Ich werde nie bereit für das Krankenhaus sein.
«Ich muss mich wohl daran gewöhnen.»
«Die Kinder freuen sich bestimmt schon.»
Ich nicke und kratze mit der Gabel auf meinem Teller. «Wahrscheinlich finde ich es im Krankenhaus schlimmer als sie. Du kommst doch mit?» Ich gehe da auf keinen Fall alleine hin.
«Natürlich», sagt er und schiebt sich einen weiteren Bissen in den Mund. «Aber nur, wenn du heute jonglierst!»
«Wenn du die Bälle wieder einsammelst, die ich fallen lasse!»
Elias lächelt. «Versprochen.»
Felix kommt und hält Elias das Telefon hin. «Josias», flüstert er ihm zu. Elias’ Lächeln verschwindet. «Sei gegrüßt, Josias», sagt er ins Telefon. Steht auf dabei, nickt mir entschuldigend zu und verschwindet mit schnellen Schritten in seinem Zimmer. Mein überraschter Blick ist nicht der einzige, der ihm folgt.
«Du kannst schon jonglieren, Luisa?», setzt Adrian die Unterhaltung fort.
«Ich übe noch. Elias sagt, es sei eine gute Unterhaltung für die Kinder, die wegen der Infektionsgefahr nichts von dem Spielzeug anfassen sollen. Die bekommen wenigstens was zu gucken.» Ich seufze. «Und wenn ich es versuche, haben sie auch was zu lachen.»
Elias kommt zurück. Hat statt des Telefons etwas anderes in der Hand. «Das hier ist der Schlüssel für die Regenbogenkiste. Tut mir leid, aber du musst heute ohne mich ins Krankenhaus fahren, Luisa.»
«Nein, das mache ich nicht!»
«Es tut mir leid, ich habe ein wichtiges Treffen.»
«Dann bleibe ich hier, während du weg bist. Ich muss sowieso noch ein Referat vorbereiten. Gehen wir eben morgen zu den Kindern.»
«Luisa, sie warten auf uns! Sie wären furchtbar enttäuscht, wenn heute niemand kommt.»
Nein. «Ich kann das nicht.»
«Doch, Luisa. Du kannst. Mach es von mir aus ein bisschen kürzer. Lies ihnen etwas vor und erzähl etwas. Die Kinder sind schon froh, wenn überhaupt jemand kommt, der sich einfach ein bisschen mit ihnen beschäftigt.»
«Elias, nein!», sage ich laut und überdeutlich. Knalle mein Besteck neben den Teller. Brenne meinen Blick in seinen und sehe nicht mehr weg. Ganz tief in mir fühle ich, wie der versteckte Wolf sich zu regen beginnt. Wie kann Elias mich einfach nicht ernst nehmen!
Die Gespräche verstummen. Inzwischen starren uns alle am Tisch an.
Elias erwidert meinen Blick. Hält ihn einfach aus. Ganz ruhig. Kühlt meine Wut mit seinen eisblauen Augen. «Bitte, Luisa», sagt er nach einer unendlichen Zeit.
«Na gut. Ich versuche es. Aber wenn ich es nicht schaffe, dann komme ich sofort wieder her.»
[zur Inhaltsübersicht]
22. Elias
Was war das denn vorhin am Esstisch? Gütiger Himmel! Wie gut, dass die anderen Luisas Blick nicht aushalten mussten. Nicht den Schmerz, den Vorwurf, vor allem nicht die nackte Wut, die darin lag! So viel tragen Menschen nur selten in sich. Ich musste sie aus der Wohnung bekommen, ehe Josias hier eintrifft, schon um sie zu schützen. In den Augen des Rates ist es schlimm genug, dass überhaupt ein Mensch hier bei uns lebt. Was würde Josias erst sagen, wenn er wüsste, was Luisa für ein Mensch ist?
Dabei ist das nur die eine Seite von ihr. Denn obwohl sie so voll Hass ist, obwohl es ihr so viel abverlangt, geht Luisa wieder ins Krankenhaus, um den Kindern die Einsamkeit zu vertreiben.
Sie ist noch nicht lange aus der Wohnung, da kommen Josias und Helena auch schon durch unsere Tür marschiert. Rang und Wichtigkeit
Weitere Kostenlose Bücher