Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Uhrwerk auf den Boxsack ein, rechts, links, rechts, Sarah schwingt ihr Springseil so schnell, dass es aussieht, als befände sie sich in einem Kokon, während Konstantin und Felix Liegestütze machen.
«Ich muss mit euch reden», sage ich. Alle verstummen, sehen mich an. Die Mädchen setzen sich im Schneidersitz auf die Matte und drehen ihre Stöcke zwischen den Händen. Konstantin legt sich ein Handtuch um die Schultern, obwohl ich mir sicher bin, dass er nicht schwitzt.
«Ja, das solltest du wohl», sagt Adrian und lässt sich von Sarah die Boxhandschuhe ausziehen.
«Luisa wird vorübergehend hier wohnen», sage ich.
Man hat die Entscheidungen seines Leiters fraglos zu akzeptieren, so sind wir ausgebildet worden. Trotzdem schüttelt Konstantin den Kopf, und Raquel und Selina sehen mich mit großen Augen an. Adrian traut sich zu sagen, was wohl alle denken: «Wie soll das funktionieren, Elias?»
«Luisa weiß nicht, wohin. Ihre Mutter ist bei einer Bekannten und hat ihr erlaubt, so lange allein in der Wohnung zu bleiben.»
«Wo ist dann das Problem?»
«Der Vater ist dagegen. Er will, dass sie so lange bei ihm wohnt. Aber dahin will Luisa nicht.»
Adrian zieht an den Bändern, mit denen er seinen Boxhandschuh schnürt. «Luisa ist noch nicht volljährig, oder?»
«Nein.»
«Seit wann stellen wir uns gegen die Gesetze, Elias?»
«Ich habe meine Gründe, warum ich Luisa hier haben möchte», beende ich die Diskussion. Und ich sage ihnen nichts von meinem Verdacht. Natürlich nicht. Raquel, Selina und Sarah stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Ja, Himmel noch mal, und ich sage ihnen auch nichts davon, dass Luisa mir, obwohl ich es bestimmt nicht will, eine Menge bedeutet. «Ich möchte nicht, dass sie auf der Straße landet.»
Konstantin verzieht das Gesicht. Hängt sein Handtuch über die Stange, um mit dem Training weiterzumachen. «Sollen wir jetzt allen Straßenkids hier einen Schlafplatz anbieten? Ist es das, was du vorhast, Elias?»
«Haltet es einfach aus, dass sie hier ist, solange sie hier ist. Und seht zu, dass sie nichts über uns erfährt!»
«Wann informierst du den Rat darüber?», fragt Selina.
«Gar nicht.»
Ich schließe die Tür zum Trainingsraum hinter mir und gehe ohne ein weiteres Wort zurück in unseren Wohnraum. Erzengel Gabriel blickt von dem großen Bild über dem Tisch skeptisch auf mich herab.
Am nächsten Tag geht Luisa wirklich in die Schule. Halb hatte ich erwartet, dass sie die Gelegenheit nutzen würde, zu schwänzen. Aber sie meinte, sie habe schon Schlimmeres durchgemacht und sei trotzdem gegangen. Die Shinanim atmen auf, denn jetzt, wo Luisa nicht mehr da ist, müssen sie ihr Anderssein nicht verbergen.
Ich sitze am Schreibtisch, um zu arbeiten, als es an meiner Tür klopft. Es ist Selina. «Luisa hat die Ikone in ihrem Zimmer abgenommen!», sagt sie vorwurfsvoll. «Die Hetoimasia!»
«Ich weiß. Ich habe die Ikone in das leere Zimmer am Ende des Ganges gehängt, wenn du sie ansehen willst.»
Doch Selina geht nicht. Kommt noch näher an meinen Schreibtisch. «Seltsam, dass du ausgerechnet jemanden mitbringst, der offenbar keine Bilder von Engeln mag.»
Ich stehe auf und erwidere ihren Blick. Werde mir wieder einmal bewusst, wie viel größer ich bin als sie. «Willst du mich kritisieren, Selina? Du hast vor dem Rat versprochen, unsere Aufgaben mit allen Kräften zu unterstützen und meinen Anweisungen zu folgen.»
Ich habe erwartet, dass Selina sich entschuldigt und ohne Widerspruch verschwindet, doch sie tut es nicht. «Verzeihung, Elias. Natürlich folge ich deinen Anweisungen. Ich dachte nur, dass jemand wie du doch einen Grund hat zu handeln, wie er handelt.»
«Luisa wollte das Bild ihres verstorbenen Bruders aufhängen, an dem ihr viel liegt, und es war nur ein Nagel in der Wand. Nebenbei: Was machst du in Luisas Zimmer?»
«Ich habe ihr einen richtigen Schreibtischstuhl hineingestellt, damit sie besser Hausaufgaben machen kann. Dieser normale Stuhl taugt doch nichts.»
Ich habe sie offenbar falsch eingeschätzt. «Danke, dass du daran gedacht hast, Selina.»
Als sie gegangen ist und ich wieder an meinem Schreibtisch sitze, frage ich mich zum hundertsten Mal, ob ich richtig gehandelt habe. War es richtig, Luisa hier wohnen zu lassen, mitten unter uns? Ich habe sie nicht zum Spaß mit hinauf auf das Dach genommen, es war auch ein Test. Trotzdem weiß ich immer noch nicht, ob ich recht habe mit meinem Verdacht. Sie hatte Höhenangst, natürlich, die
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