Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
überraschen.» Ich mag Josias arrogantes Grinsen nicht und bin mir sicher, dass es ihm vergehen wird, wenn wir hier richtig loslegen.
«Da ist noch etwas», fährt er fort. «Du hast eine höchst ehrenvolle Aufgabe übernommen, und der Rat hat dir gegenüber großes Vertrauen bewiesen. Es ist eine Aufgabe, in die du deine ganze Kraft stecken solltest. Willst du nicht endlich deine alberne Krankenhausgeschichte an den Nagel hängen, Elias?»
«Nein, ich mache damit weiter. Es hilft den Kindern.» Hat dieser alte Mann eine Ahnung, was es für ein Kind bedeutet, einsam zu sein? Nein, hat er nicht. Er ist schon viel zu weit davon entfernt, wie ein Mensch zu denken. Und das erwartet er auch von mir. Distanz zu den Menschen. Sie zu wahren, fiel mir leichter, als ich Luisa noch nicht kannte.
Ich hole uns eine Flasche Rotwein aus dem Weinschrank, ich selbst diesmal, nicht Adrian, denn ich brauche eine Pause von diesem Gespräch. Heute strengt es mich besonders an, höflich und diplomatisch zu bleiben. Umständlich entkorke ich die Flasche und fülle edle Kristallgläser. Atemzug um Atemzug fühle ich, wie ich ruhiger werde, wie meine Kraft wächst. Dann kehre ich mit den Weingläsern auf einem Tablett zu den beiden Abgesandten des Rates zurück.
Josias schwenkt den Wein in seinem Glas, hält ihn gegen das Licht, probiert ihn und gibt mir zahllose gute Ratschläge, die ich mir als sein Untergebener anhören muss, so weltfremd sie auch sein mögen. Helena nickt eifrig dazu.
«Wüssten die Menschen, was wir Großartiges für sie tun, sie würden es nicht verstehen, Elias!», erklärt er mir. «Es ist ungeheuer wichtig, dass wir unerkannt unter ihnen wandeln. Du bist noch jung und voller Träume, aber glaub mir, die Menschen sind so viel anders als wir. Sie sind schwach und ängstlich. Sag einem von ihnen, was du bist, und sie werden vor dir fliehen. Oder, noch schlimmer, sie werden sich gegen dich stellen. Menschen fürchten alles, was ihnen fremd ist. Das ist so seit Anbeginn der Zeiten. Warum sonst meinst du, leben in unseren Wäldern keine Bären mehr, keine Wisente und Wölfe? Weil Menschen alles töten, vor dem sie sich fürchten.»
«Und wir Shinanim sind zum Fürchten, ja?», versuche ich zu scherzen. Auch wenn mir gar nicht nach Lachen zumute ist.
«Gerade du, Elias. Klug und geschickt und viel stärker als Menschen.» Josias stellt sein leeres Glas ab. «Sieh zu, dass dieses Mädchen verschwindet, ehe sie erfährt, was du wirklich bist.»
«Ist das ein Befehl?», frage ich trotzig. Und doch kann ich nicht anders, als mir die Frage zu stellen: Was würde Luisa sagen, wüsste sie, wer ich wirklich bin? Würde sie vor mir fliehen?
Josias erhebt sich und Helena mit ihm. «Das ist ein guter Rat von jemandem mit mehr Lebenserfahrung, als du sie hast, mein junger Kämpfer.»
Endlich, endlich gehen sie.
Ein dummer Junge, der keine Ahnung hat, wie es in der Welt zugeht, so würde er mich also gerne sehen, der alte Josias.
Ich gehe in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir und setze mich an meinen Schreibtisch. Atme das befreiende Alleinsein tief ein wie frische Bergluft. Ich versuche, meinen Ärger über Josias und den Orden in Kraft zu verwandeln. Kraft, die ich für meine Aufgabe brauche.
In Zukunft muss ich besser auf ähnliche Besuche vorbereitet sein. Ich greife mir Papier und beginne, einen Plan aufzustellen. Ergebnisse und Entwicklungsmöglichkeiten unserer Gruppenmitglieder zusammenzutragen. Beim nächsten Mal erwischen die Ratsabgesandten mich nicht ohne Zahlen und Fakten, egal, wie kurzfristig sie kommen mögen. Nächstes Mal lasse ich mich nicht über mein Verhältnis zu Menschen belehren, denn dann werden wir über das einzige Thema diskutieren, das den Rat etwas angeht: die Fortschritte der Gruppe.
Luisa ist mir damals in der Bahn ohne zu überlegen zu Hilfe gekommen. Sie hat mir Hoffnung gegeben, dass es Menschen gibt, denen andere nicht egal sind. Dafür bin ich ihr dankbar. Doch statt aufrichtig zu ihr zu sein, muss ich sie anlügen und ihr etwas vorspielen. Ich weiß, dass ich ihr nichts über uns erzählen kann, dazu brauche ich Josias’ Ermahnungen nicht. Und trotzdem: Ich hasse es, sie anzulügen.
Ich schreibe mit der Hand, denn das, was ich hier verfasse, ist zu brisant, um es einem Datennetzwerk anzuvertrauen. Blaue Zahlenkolonnen entstehen. Namen und Trainingsstände. Kurze Beurteilungen darüber, wie die Gruppenmitglieder sich entwickeln.
Da springt hinter mir die Tür auf und
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