Schattenblüte. Die Erwählten
hoffe ich.» Er zieht die Stirn kraus. «Also führt das Tor nicht in die Hölle, sondern ist so eine Art Nebeneingang in den Himmel?»
«Ja, so in etwa.» Thursen wendet sich wieder den anderen zu. «Wir Werwölfe sind dazu geschaffen worden, das Tor, das die Welt der Toten mit der der Lebenden verbindet, geheim zu halten. Vittorio darf das Tor nicht finden. Das bedeutet, wir können nicht fliehen und uns einfach irgendwo verstecken. Wir können nicht wieder die Verborgenen werden, wie wir es lange Zeit waren.»
«Wir werden das Tor mit unserem Leben verteidigen», sagt Mauriks. Thursen nickt, sieht zu Boden und lächelt leise. Vermutlich denkt er, was ich denke. Nämlich, dass Mauriks sich anhört wie ein Superheld aus einem Film.
«Und wie soll das gehen, Thursen?», fragt Edgar, der mit seiner Hand Zrries Rückenfell durchkämmt. «Wollt ihr ewig kämpfen? Alle, die zufällig in die Nähe des Tores kommen, töten? Ihr seid total erschöpft, müde und verletzt, guckt euch doch an. Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie viele Shinanim Vittorio gegen euch in die Schlacht schicken kann?»
«Das hat Elias auch schon gesagt. Aber ewig weglaufen können wir auch nicht. Egal, wie weit wir laufen, es ist nicht weit genug. Darum haben Norrock und ich uns etwas überlegt. Wenn wir Glück haben, hat Vittorio noch nicht mit den anderen Shinanim über das Tor gesprochen.» Thursen sieht Edgar direkt in die Augen. «Dann müssen wir nur einen Einzigen töten, und unser Geheimnis ist wieder sicher.»
Norrock heult und ruft uns zur dritten Verwandlung. Es ist das Heulen des Leitwolfs. Das Heulen, das den Wald, die Bäume, die Sträucher, Tiere und Pflanzen, alles, was lebt, einbezieht. Ich lege meine Hand auf den Boden, muss spüren, ob die Erde nicht wirklich vibriert. Doch es ist nur der Wolf, dessen machtvolle Töne die Winterluft bricht wie Glas und von überallher zurückwirft. Die anderen fallen ein. Und der Junge wird unter meinen Blicken farbloser, als hätten die Töne die Farben aus seinem Gesicht gesogen. Seine Augen werden werwolfsgrau. Seine strohblonden Haare sind auf einmal fahl. Dann kommt das Fell seine Hände heraufgewachsen und verschluckt ihn wie dichter schwarzer Rauch. Er ist Wolf, und diesmal bleibt er es, auch als der Kreis bricht. Der neue Wolf steht auf, läuft von einem zum andern und beschnuppert ihn aufmerksam. Heult wieder, diesmal anders. Diesmal beginnt das Leid darin Erinnerung zu werden.
Norrock stößt ihn mit der Schnauze an. Weist ihn auf seinen Platz in der Gruppe. Einmal noch flackert er ins Menschsein, dann ist er endgültig einer von ihnen.
Durch mich fließt der Strom der Macht und Energie hindurch, als wäre ich taub geworden. Nur der Gesang der Wölfe lässt mir eine Gänsehaut wachsen. Sogar Edgar wird zum Wolf. Zum zweiten Mal. Und wieder ist er weiß, ganz weiß, so weiß, wie die Schneeflocken, die ihn umtanzen.
[zur Inhaltsübersicht]
52. Thursen
WAS Norrock und ich genau geplant haben, werde ich ihnen später erklären. Erst einmal müssen wir uns erholen und Kraft sammeln.
Wir brauchen Fleisch, also jagen die Wölfe. Bis auf Rawuhn, der Edgar bewacht. Rieke trägt immer noch Norrocks Jacke über ihrer. «Können wir nicht ein Feuer machen?», fragt sie. Zieht Norrocks Jacke enger um sich, als könnte das bisschen abgeschabte Leder sie beschützen. Die Jacke passt überhaupt nicht zu ihr, zu rau und verwegen, genauso wenig wie sie selbst zu den Werwölfen passt. Doch wahrscheinlich ist ihr das egal, und die Jacke hält sie warm.
«Warum nicht?», sage ich. «Machen wir Feuer. Sollen die verfluchten Shinanim doch erfahren, dass wir hier waren. Sie können ja ihre Drohnen schicken. Wir sind weg, bevor sie hier auftauchen.»
Rieke nickt. «Ich sammle Holz.» Edgar nimmt sie mit, dem Rawuhn wie ein Wachhund folgt. Ich komme mir so nutzlos vor mit meiner verletzten Hand. Ich setze mich auf einen Baumstumpf, und Luisa kommt zu mir. Wenigstens mein linker Arm ist noch brauchbar, sodass ich ihn um sie legen kann, als sie sich an mich lehnt. Es fühlt sich an, als würden wir wie zwei Teile eines Puzzles zusammengefügt. Wenn ich sie nur ewig so halten könnte.
«Was ist morgen?», fragt sie.
«Morgen haben wir alles hinter uns.»
Sie legt ihre Wange an meine und flüstert mir leise ins Ohr. «Sag mir, dass alles gutgehen wird.»
Klar, wenn sie es will, kann ich sie auch anlügen. «Wir haben alles im Griff. Alles wird gutgehen. Morgen kann Vittorio nichts mehr verraten, und
Weitere Kostenlose Bücher