Schattenblüte. Die Erwählten
immer noch ganz kalt. Wasch dir den eisigen Wald herunter.»
Ich tue, was Thursen mir geraten hat. Lange stehe ich unter dem heißen Wasser, seife mich ein und wasche meine Haare. Als ich aus dem Bad komme, ein Handtuch um mich gewickelt, meine nassen Haare mit einem anderen rubbelnd, hält Thursen mir einen dampfenden Becher entgegen. Thursen hat die Fenster geschlossen und Kaffee gekocht. Während Thursen unter der Dusche verschwindet, suche ich mir Anziehsachen. Neu, sauber. Ich rieche an ihnen. Thursen hat recht. Ich war Werwolf. Meine Sinne sind geschärft. In Zukunft werde ich sofort erkennen, welche Waschpulvermarke jemand benutzt. Obwohl ich mich fühle, als hätte ich in Waschmittel gebadet, ist es gut, wieder sauber zu riechen.
Ich schaudere. Es ist kalt in der Wohnung, und nicht nur vom Lüften. Jetzt, wo mir warm ist, merke ich es erst richtig. Irgendwer hat offenbar die Heizung heruntergedreht, nachdem ich aus der Wohnung geflohen bin. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer und stelle die Thermostaten an den Heizkörpern unter den Fenstern auf Zimmertemperatur. Und dann koche ich, richtiges Essen. Nudeln mit viel Gemüse, wenn es auch nur aus dem Tiefkühlfach kommt. Endlich wieder Gemüse, nicht nur kaltes, fast gefrorenes Brot und ein bisschen Käse und manchmal halb verbranntes Fleisch. Mein Magen rumort bei dem Duft.
Als Thursen aus der Dusche kommt, stecken wir seine und meine schmutzigen Sachen in die Waschmaschine. Anschließend sitzen wir aneinandergedrängt auf der Couch im Wohnzimmer und essen. Wir haben eine Decke um uns gewickelt, denn es ist immer noch kalt. Die Heizkörper sind so heiß, dass man sie kaum berühren kann, doch die ausgekühlten Wände schlucken gierig jede Wärme. Es ist, als hätte die Kälte aus dem Wald uns bis in die Wohnung verfolgt. Mit kleinen Häppchen füttern wir uns gegenseitig. Die Decke verrutscht. Wir lachen, als ich eine Nudel auf Thursens nacktes Bein fallen lasse. Er rückt ganz nah an mich heran. Thursens Haut wärmt meine Schulter, meinen Arm, meine Beine. Er nascht den letzten Rest von meinem Teller.
«Kannst du meine Klamotten auf der Heizung trocknen?», fragt er. Sieht an sich herunter. «So kann ich morgen ja nicht hinaus.»
Ich lächle. Er sieht wunderschön aus. Ich liebe seinen muskulösen Tänzerkörper, anmutig wie eine Raubkatze, trotz der kaum verheilten Wunden vom Angriff der Shinanim, die sich über seine Brust und Oberarme ziehen. Und auch auf den Armen sind noch die fast verblassten uralten Narben. Fast ein wenig schwindelig ist mir, als ich in die Küche gehe. Seine Jeans bekommen die Heizung im Schlafzimmer, das Shirt kann ich gleich zusammen mit den Socken in der Küche trocknen.
Thursen ist nicht mehr im Wohnzimmer, als ich zurückkomme. Ich finde ihn in meinem Zimmer, wo er dabei ist, ein Meer von Kerzen zu entzünden. Es funkelt und strahlt auf meiner Schreibtischplatte, auf dem Regal, auf dem Nachttisch. Ein paar der Kerzen stehen sogar auf dem Boden und zeigen mir den Weg zu ihm. «Damit dir nicht mehr kalt ist», sagt er. So viele Kerzen, Teelichte in Blechschälchen, er muss sie in der Küche gefunden haben, wo meine Mutter eine ganze Tüte voll als Vorrat für das Stövchen aufhebt, das wir nie benutzen. Und jetzt stehen sie da, die Kerzen, mein ganzes Zimmer ist erfüllt von ihrem Schein. Thursen schlingt die Arme um mich und zieht mich zum Bett. Die Decke, seine Wärme und die der Kerzen vertreiben endlich auch die letzten fröstelnden Gedanken an die Kälte dort draußen im Wald. Wir lassen uns treiben. Vielleicht zum letzten Mal, bevor der Alltag wieder beginnt. Doch das ist klar: Uns werden wir behalten, was auch geschehen wird. Wir gehen die Wege gemeinsam.
«Was wird sein, meinst du?», frage ich Thursen.
Wir sind voller Fragen. Was wird morgen sein? Was kommt danach? Wie wird das Leben ohne meinen Bruder? Wie kommen wir ohne Werwölfe im Wald aus? Was werden wir meiner Mutter sagen, seinem Vater, seiner Schwester? Werden sie uns die Sorgen, die sich sicher gemacht haben, jemals verzeihen?
Ich ziehe Thursen auf mein Bett. Freue mich am vertrauten Geruch seiner Haut. «Was wäre», frage ich Thursen, «wenn wir einfach hierbleiben würden? Wir hätten nichts mehr zu tun damit.»
Thursen zieht mir mit einer kurzen Bewegung meinen Pulli über den Kopf und lässt ihn fallen. «Nein. Wir wollten alle Herausforderungen annehmen.»
«Ich habe so ein ungutes Gefühl.»
«Denk nicht dran. Nicht heute Nacht.» Er zieht mir die
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