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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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müssen es einfach. Es gibt keinen anderen denkbaren Weg, nicht für uns.
    Thursen packt aus, was wir mitgebracht haben, zunächst die Gläser und Kerzen. Ich werde niemals müde, seine Hände zu betrachten, die so sanft und doch so voller Kraft sind.
    Dann machen Rieke und Norrock, Thursen und ich uns auf, die Windlichter an den Trauerbäumen zu verteilen. Diesmal sind es keine Rachemale, sondern Erinnerungsfunken, von Blumen begleitet. Es sind so viele Bäume, so viele Namen, die wir schnitzen mussten, als endlich alles vorbei war. Auch Haddrice, Krestor und Lurnak, Janok und Jerro und Fath haben jetzt ihren Baum hier im Wald. Das sind die Werwölfe, die ihr zweites Leben als Menschen nicht mehr antreten konnten.
    Ich bringe Licht und Blumen zum Baum meines Bruders. Norrock sitzt lange am Baum von Sjöll. Rieke und Thursen sind schon weiter. Und nach und nach beginnt der erwachende Wald zu leuchten, und Blumen blühen auf dem schlafenden Boden. Im Licht der Kerze, die sie hält, kann ich Tränen auf Riekes Wangen glitzern sehen. Auch Norrock, der Zyniker, wischt mit dem Ärmel über seine Augen. Vielleicht ist es gut, wenn er aufhört, seinen Schmerz mit einem stählernen Hammer in sein Innerstes zurückzuprügeln. Oder hat er schon öfter um Sjöll geweint, und es weiß nur niemand?
    Wir sind noch nicht alle. Elias wollte ja noch zu uns stoßen. Aber vielleicht ist es gut, dass er später kommt, diese Trauer ist nicht seine. Er muss seinen eigenen Abschied feiern, bei dem ihm keiner helfen kann. So lange war er stolz, ein Shinan zu sein, und jetzt ist er es nicht mehr. Jetzt gehört er zu uns, zu denen, die etwas verloren haben, das niemand sonst ermessen kann.
    Als alle Kerzen brennen, kommt er endlich. Und, ich glaube es nicht, er ist nicht allein! Warum bringt er jemanden mit, jetzt, hierher? Ich muss zweimal hinsehen, um das blonde Mädchen an seiner Seite zu erkennen.
    «Hallo!», begrüßen uns die beiden, Elias’ Lächeln mit immer noch einer Spur der Arroganz, die ihn als Leiter der Schutzengeltruppe umgab. Ihr Lächeln ist zaghafter, als wäre sie nicht sicher, ob wir sie wieder wegschicken wollen.
    «Woher kennst du meine Schwester, Elias?», fragt Thursen mit einem Grollen in der Stimme, das immer noch den Werwolf erahnen lässt, der er einmal war.
    Elias zuckt die Schultern. «Ich habe Agnetha zufällig an der Uni getroffen. Als sie mir ihren Namen sagte, wusste ich natürlich sofort, wer sie ist. Meinst du nicht, du hättest ihr schon längst alles erzählen sollen, Thursen?»
    Thursen. Thursen, nicht Lars. Agnetha zuckt nicht mal. Elias hat ihr also auch das erzählt.
    «Offenbar weiß sie ja schon so einiges», sagt Thursen.
    Elias lächelt. «Sie hat es gehört, sie hat es nicht gesehen.»
    «Dann sieh dir den Rest auch noch an, Agnetha», sagt Thursen. «Und lass uns nachher darüber reden, warum du es unbedingt von dem da erfahren musstest.»
    Wir setzen uns wieder auf die Decke. Wir schweigen, warten. Und dann, als der Tag silbrig anbricht, treten zwei Gestalten zu uns auf die Lichtung. Sanft, majestätisch wie traumgeboren stehen die Wölfe im ersten Licht der Morgensonne. Da ist ein Ziehen in meiner Brust, so schön sind sie. Thursen hat seinen Arm um mich gelegt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Rieke nach Norrocks Hand tastet, ohne den Blick von den Wölfen zu wenden. Sie halten sich, und ihre Hand verschwindet fast komplett in seiner.
    «So etwas war mein Bruder, sagst du?», haucht Agnetha.
    «Nein, er war nicht genau so», antwortet Elias’ warme Stimme. «Aber er ist schuld, dass es die, die du da siehst, gibt.»
    «Ich?», fragt Thursen.
    «Lass mich erzählen», beginnt Elias und wendet sich zu Agnetha. «Ja, dein Bruder war ein Wolf. Nicht so einer, ein dunkler, wilder Werwolf war er, und er hielt sich mit seinem Rudel im Wald verborgen.»
    Agnetha blickt traurig zu Thursen. «Warum bist du bloß nicht nach Hause gekommen?»
    «Du weißt, warum», sagt Thursen. «Wegen Mamas Tod.»
    «Er konnte nicht mehr unter Menschen leben. Bei den Werwölfen hätte er fast wie ein Tier sein können. Er hätte das Tor zum Totenreich bewachen, hätte jagen können und sein Leben vergessen. Aber das hat er nicht getan. Er hat sich erinnert, warum er Werwolf wurde. Werwölfe können andere verwandeln, andere zu dem machen, was sie selber sind. Dein Bruder hat nicht nur einen Menschen in einen Werwolf verwandelt. Statt neuer Jäger für sein Rudel hat er Menschen gefunden, die wie er mit ihrem Leben

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