Schattenblüte. Die Erwählten
mir der Rat der Shinanim ungefragt geschickt hat, leitet jetzt meine Gruppe?
«Ja, erst einmal jedenfalls. Du wirst doch jetzt hier gebraucht.» Ihr Handy piept. Schnell zieht sie es aus der Tasche und guckt auf das Display. «Das ist Konstantin. Ich muss weg, sorry.» Im Rausgehen hat sie das Gerät schon am Ohr und winkt mir mit der Hand einen Abschied zu. «Ruf mich an, wenn es etwas gibt, das wir wissen sollten! Und pass in Zukunft besser auf deine Kerzen auf!»
Ich habe das Handtuch im Bad auf den Halter gehängt und meine Haare gekämmt. Ich will gerade in meine Jeans steigen, da klopft es erneut. «Elias?», fragt eine Männerstimme. Mit einer Hand schließe ich den Jeansknopf, mit der anderen öffne ich die Tür.
«Gesegneten Tag, Elias. Ich bin Nathanael», sagt der Mann, der davor steht. «Ich wurde geschickt, dir beim Ankleiden zu helfen.» Ich kenne diesen Mann nicht, aber er ist kein einfacher Helfer, sondern ein Shinan, der selbst in Ehrenkleidung gehüllt ist. Ein Ratsmitglied also. Sein Blick streift mich von den nackten Füßen bis zum feuchten Haar. Warum habe ich nicht wenigstens ein Shirt angezogen? «Wir sind ein wenig in Eile», sagt Nathanael und guckt, als hätte er mit etwas sehr Saurem gegurgelt. «Die Ersten sind schon eingetroffen. Wenn wir dann bitte anfangen könnten.»
«Natürlich.» Ich bitte ihn herein und ziehe auf seinen Wink hin die Hose wieder aus. Offenbar ist er einer der alten Traditionalisten. Ich mache trotz Unterwäsche eine angedeutete Verbeugung. «Danke, dass du mir bei dieser wichtigen Aufgabe helfen wirst, Nathanael. Ich habe dich nicht bei Vittorios Begrüßung gesehen. Daher nehme ich an, du bist nicht mit ihm zusammen angereist?», versuche ich etwas Konversation.
«Nein, ich kam einen anderen Weg.» Nathanael dreht sich zum Bett und legt den Kleiderstapel darauf ab. «Allerdings bin ich auch gerade erst aus dem Ausland zurückgekehrt. Ich war im Himalaya und habe den Yeti erforscht.»
«Den Yeti?»
Nathanael dreht sich zu mir um und lacht. Habe ich mich so in ihm getäuscht? Er sieht von einer Sekunde auf die andere viel weniger ehrfurchtgebietend aus. «Elias! Gerade von dir hätte ich nicht erwartet, dass du auf so einen Unsinn hereinfällst! Du weißt genau, dass es keine Yetis gibt!»
«Das habe ich auch von Werwölfen gedacht, jedenfalls so lange, bis ich auf einmal einem gegenüberstand.»
«Ist die Narbe an deinem Hals etwa von dem Kampf mit einem von ihnen?»
«Ja, da hatte mich eine der Bestien zwischen den Zähnen. Du siehst also, es gibt sie tatsächlich.»
«Ich habe nicht wirklich gezweifelt. Von den Werwölfen gibt es in unseren Archiven so viele Berichte, dass man zumindest wusste, dass es sie einmal gegeben haben muss. Allerdings nahmen wir zugegeben an, sie seien längst ausgestorben.»
Nathanael hat währenddessen die Teile der Ehrenkleidung nebeneinander auf das Bett gelegt. Ich bin ihm für seine fachkundige Hilfe äußerst dankbar. Das Anlegen der traditionellen Kleidung zählt nicht zu den Dingen, die man aus Büchern oder dem Internet lernen kann. Dieses Wissen ist geheim und wird nur persönlich von Ratsmitglied zu Ratsmitglied weitergegeben.
Die Hose, eine schlichte schwarze Hose, anzuziehen ist einfach. Nathanaels Blick findet natürlich auch die Bissspuren an meinem Bein. Er spricht mich nicht darauf an, doch ich kann aus dem Augenwinkel sehen, wie sich seine Brauen zusammenziehen. Dann folgt der kompliziertere Teil. Um meinen Oberkörper wird, wie eine Art Gebetsband, kreuzförmig eine goldene Kordel geschlungen. «Das Band soll dir die Kraft des Sonnenlichts geben.»
«Warum ist es dann so eng geschnürt?», wage ich zu fragen.
«Um dich an die Pflicht zu erinnern, die das Blut der Engel dir auferlegt», erklärt Nathanael und wickelt weiter. «Vielleicht ist es vermessen zu fragen, aber stimmt die Geschichte deiner gesegneten Geburt tatsächlich?»
«Was ist daran gesegnet, wenn ein Kind schon vor der Geburt seine Mutter verliert?»
«Sie war eine von uns, nicht wahr? Und nur für dich hat ihr Herz noch nach ihrem Tode weitergeschlagen, bis du bereit warst, geboren zu werden.»
Sie hatte einen Autounfall, und sie starb. Nein, sie versank wohl in einer Art tiefem Koma. Sie war hirntot, aber ihr Herz schlug weiter, und ihr Körper verfiel nicht, wochenlang, ohne Maschinen und Apparate, bis man mich aus ihrem Leib holen konnte. Bin ich deshalb gesegnet? «Ich glaube, ich hätte lieber eine ganz normale lebendige Mutter
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