Schattenblüte. Die Erwählten
gehabt.»
«Du bist zu bescheiden. Wir alle wissen, dass du etwas Besonderes sein musst. Wie könntest du es nicht sein, wenn deine Mutter es geschafft hat, die Grenzen zwischen Leben und Sterben zu überschreiten, damit du geboren werden konntest.» Als Nächstes reicht er mir ein schmal geschnittenes Oberteil, ärmellos und in klarem Blau. «Das hier symbolisiert den Himmel.» Nathanael zieht am Saum, damit es über meinen Oberkörper rutscht. Als Letztes gibt er mir eine Jacke aus feinem, weißem Wollstoff, die bis auf meine Oberschenkel reicht. Sie hat lange Ärmel und schmale Aufschläge am Kragen. «Das sind die Wolken, die Sonne und Himmel verdecken», sagt Nathanael. Und ehe ich sie anziehen darf, zeigt er mir noch den Rücken. Die Jacke hat auf dem Rücken zwei senkrechte Schlitze, die von Stickstichen überdeckt und zusammengehalten werden. Das muss man mir nicht erklären, das ist das Symbol, dass wir die Flügellosen sind. Die Flügelschlitze sind verschlossen. Ich schlüpfe in die Ärmel und lasse mir die Jacke mit einem Ledergürtel schließen. Die Gürtelschnalle ist das Knotenzeichen der Shinanim. Ich sehe an mir herab. Wenn ich einen Spiegel hätte, könnte ich darin denjenigen sehen, der ich immer sein wollte. Ein wahrer Shinan.
«Du bist noch nicht fertig», sagt Nathanael.
«Fehlt noch etwas?»
«Der Kragen. Wenn wir unter normalen Shinanim sind, dann tragen wir ihn so anliegend, wie du ihn jetzt hast. Siehst du, von vorne ist darauf mit Goldfaden der Shinan-Knoten gestickt. Wenn wir uns aber, wie gleich im Ratszimmer, unter Eingeweihten befinden, dann können wir uns untereinander zu erkennen geben, indem wir den Kragen zur Mitte hin umklappen.» Er macht es mir vor. Und auf der Rückseite seines Kragens sind von oben nach unten der blaue Flügel und in Gold der Davidstern, das Symbol Christi und die Mondsichel eingestickt. Unter meinem Kragen sind dieselben Zeichen.
«Du bist heute zu einem Mitglied des hohen Rates geworden, Elias.» Er lächelt. «Normale Tuniken sind, wie du dir denken kannst, unter dem Kragen unbestickt.» Er klappt seinen Kragen wieder um. «Und jetzt folge mir zu der Beratung, Elias.»
Bevor wir das Zimmer verlassen, lösche ich die Kerzen.
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24. Luisa
« SIEH mir in die Augen, Luisa Folkert», höre ich Thursens warme, heisere Stimme sagen.
Luisa Folkert. Ich erinnere mich. Das war mein Name. Das war ich, ich, als ich noch Mensch war. Ich sehe ihn an, bis nichts mehr da ist von der Welt außer seinen braunen Augen. Immer noch halte ich seine Kette wie einen rettenden Anker. Um nicht vollends den Halt zu verlieren, klammere ich mich mit der freien Hand an seiner Schulter fest. Der dicke Stoff seines Mantels schiebt sich unter meinem Handballen zusammen. Mein Herz klopft. Seine Augen, seine wundervollen, warmen, samtweichen Augen. Ob es innerlich brennt, wenn die Farbe in mich zurückströmt? Ich warte stumm darauf, dass sich mein Körper anders anfühlt. Bekommt man Kopfschmerzen, wenn die Erinnerungen den Kopf neu füllen? Ich warte, dass irgendwas wie bei dem Kuss mit Elias passiert. Klarheit im Kopf, wie nach vielen Stunden bewusstlosem Schlaf.
Ich warte. Doch es passiert nichts.
Nichts.
Gar nichts.
Thursens Blick wird starr.
«Was ist mit mir?», flüstere ich. Ich löse meine Hand und betrachte ängstlich meine Fingerspitzen. Blass und farblos sind sie wie vorher auch. Meine Erinnerung bleibt bewölkt. Es hat nicht geklappt. Ich bin ein Werwolf, genau wie vorher.
«Luisa Folkert», wiederholt Thursen. Deutlich und langsam. Da ist etwas Flehendes in seiner Stimme. Ich habe bestimmt noch nie etwas so Schönes gehört wie seine Stimme, die meinen Namen sagt. So schön und doch vergebens.
«Das ist doch mein Name, oder? Gibt es noch etwas außer dem Namen, was wir versuchen könnten?»
Er schüttelt den Kopf. Er zieht mich an sich und hält mich ganz fest.
Ich mache mich frei, will noch nicht aufgeben. «Elias, also die Shinanim, meinten, wenn man sich wirklich und ehrlich dazu entschließt, kann man aus bloßem Willen aufhören damit, sich zu verwandeln und zum Wolf zu werden.»
«Ja, das hätten die natürlich gerne.» Thursens Mund lächelt ein zynisches Lächeln. «Der Werwolf ist also ihrer Meinung nach an seiner Verwandlung selbst schuld. Was für ein Blödsinn. Luisa, wenn du die Verwandlung einmal begonnen hast, gibt es kein Zurück mehr. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Sich dagegen zu wehren ist sinnlos.»
Ich bin
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