Schattenblüte. Die Erwählten
ein Werwolf, ich bleibe ein Werwolf, und ich werde am Schluss ein Wolf sein. Mein Leben wird in Wolfsjahren gezählt, nicht in Menschenjahren. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich werde nicht zurückgehen in meine Wohnung und mit meiner Mutter leben. Ich werde die Schule nicht beenden. Ich werde nicht mal halb so alt werden wie Thursen, doch wahrscheinlich wird mir das bald nichts mehr ausmachen, denn ich werde meine Erinnerungen, mein altes Ich, nicht zurückerhalten. Und das bisschen, was Elias mir gab, wird vergehen.
Ich habe meinen Blick immer noch in die Wipfel der Bäume gerichtet, obwohl es dort nichts zu sehen gibt. Die Tränen fließen nicht so leicht, wenn man den Kopf in den Nacken legt. Meine Hände beginnen zu zittern.
«Ich bleibe bei dir», höre ich Thursen flüstern.
Und genau das geht nicht. Thursen darf sich sein Menschenleben nicht dadurch zerstören, dass er hier bei mir bleibt. Ich muss ihn wegschicken, solange ich mich noch erinnere, was für ein Leben er zurücklässt.
«Wie willst du denn bei mir bleiben?», frage ich.
«Ich liebe dich. Ich will bei dir sein. Ist das nicht klar?»
«Was ist, wenn ich nicht mehr Mensch sein kann? Wenn ich endgültig ein Wolf werde?» Wenn ich sterbe.
«Ich bleibe bei dir bis zuletzt.»
«Nein, Thursen.»
«Und was hattest du damals vor, als ich Werwolf war?»
«Ich wollte auch ein Werwolf werden.»
«Siehst du! Du wolltest sogar noch bei mir bleiben, als du wusstest, dass ich jemanden getötet habe. Nichts, gar nichts konnte dich davon abhalten. Was also sollte mich jetzt von dir fernhalten?»
«Ich habe mein Menschenleben gehasst. Ich hätte zum Werwolf werden können, und wir hätten gemeinsam ein Wolfsleben gehabt. Du bist zurückverwandelt worden. Du bleibst ewig und für alle Zeiten ein Mensch.»
«Ich kann auch als Mensch bei dir bleiben.»
«Nein. Nein, Thursen. Geh. Du wolltest die Schule fertig machen. Du hast so hart gearbeitet, um die versäumte Zeit nachzuholen.»
Thursen zögert. «Woher weißt du das auf einmal alles?»
«Was? Ach das. Ich habe dir doch gesagt, ich habe im Lager der Shinanim Elias getroffen. Er hat, nun ja, etwas mit mir gemacht, damit ich mich für eine Weile wieder erinnern kann.»
«Was genau gemacht?»
«Das willst du nicht hören.»
«Luisa. Es kann wichtig sein.»
«Er hat mich geküsst.»
«Du hast dich von Elias küssen lassen? Elias! Das ist einer von denen, die Haddrice gefoltert haben!»
«Meinst du, ich weiß das nicht? Thursen, es war kein richtiger Kuss! Er wollte mich nur, wie soll ich dir das jetzt erklären? Er wollte mich auf diese Art berühren, damit ich mich erinnere.»
«Und, hat es geklappt?»
«Das merkst du doch. Elias war nicht glücklich darüber, dass das Erste, was mir wieder einfiel, seine Rolle bei der Sache mit Nick war, das kannst du mir glauben.»
«Die Shinanim wissen also von der Verbindung zwischen Elias und Nick. Aber sag mal, fiel ihm denn gar nichts anderes als Küssen ein? Handauflegen vielleicht oder so!»
«Jedenfalls weißt du jetzt, dass meine Erinnerung nur eine kurze Weile anhalten wird. Danach werde ich vergessen haben, was zwischen uns war.» Ich lege ihm die Hand auf den Arm. «Thursen, du darfst dann nicht wegen mir hierbleiben, versprich mir das!»
«Es ist mein Leben. Ich kann damit machen, was ich will.» Er küsst mich. Steht dann auf und nimmt meine Hand. «Komm mit», sagt er. «Komm mit in die Höhle. Da ist jetzt niemand.»
Er zieht mich auf die Füße. Und zum ersten Mal, seitdem ich Werwölfin geworden bin, küssen wir uns richtig. Meine Nase an seiner weichen Haut ertrinke ich in seinem Duft. Als wir es über uns bringen, den endlosen Kuss zu unterbrechen, kriechen wir gemeinsam durch den Höhleneingang und tauchen in das Halbdunkel ein. Ich fühle ein Zittern in mir, doch diesmal kündigt es keine Verwandlung an. Diesmal ist es Thursens Nähe, die mich berauscht. Mit hastigen, fliegenden Handgriffen ziehe ich ihm den Mantel aus und dann alles, was darunter ist. Bis ich in langen, verschlungenen Bewegungen über seine Haut streichen kann. Und er macht das Gleiche mit mir. Wenn es nur nicht so eisig wäre. Wir drängen uns aneinander, in Decken und Kleidung verworren, versuchen uns zu wärmen und noch viel mehr zu geben als Wärme. Die Wölfin in mir ist wach. Ich fühle das Tier in mir, das nur noch eins will, ihn will.
«Komm», flüstert er.
Und ich lasse sie frei, meine innere Wölfin. Ziehe Thursen noch näher zu mir. Knurre, als ich
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