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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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mir. Thursen muss sie gekauft und dorthin gelegt haben, als ich zu schwach war, um hierherzukommen. Sogar daran hat er gedacht.
    Die Trauer um meinen Bruder packt mich wie ein reißendes, hungriges Biest. Es frisst sich durch mich, beißt in meine Brust, gräbt in mir und sucht in meinem Herzen nach jedem Fetzen schmerzhafter Erinnerung. Wie konnte ich meinen Bruder vergessen!
    Wie konnte ich in innerem Frieden leben, mich fühlen, als wäre ich noch ganz, wenn das gar nicht stimmt? Wie konnte ich das Loch in meinem Herzen einfach übersehen? Ist das richtig?
    Hier am Trauerbaum ist alles wieder ganz nah. Ich weine um Fabi, den kleinen sterbenden Bruder im viel zu großen Krankenhausbett. Den, von dem man auf der Beerdigung behauptete, er läge im blumenüberhäuften Sarg. Doch für mich war er einfach nur fort. Für immer. Ich wünschte, ich könnte die Stimme meines Bruders noch einmal hören. Sein Lachen. Wie er meinen Namen sagt. Wie hat er mich genannt? Er hatte einen Spottnamen. Ich weiß ihn nicht mehr. Was war seine Lieblingsfarbe? Was sein Lieblingsbuch? Sein Lieblingsfilm? Ich weiß es nicht mehr. Es ist weg, weg für immer, und es ist, als wäre mir damit ein Stück von mir selbst verlorengegangen. Ob meine Mutter sich wenigstens erinnert?
    Ich kann sie nicht fragen. Ich weiß nicht, warum. Nebel liegt auch auf dieser Erinnerung.
    Aber sie jemals wiederzusehen kommt für mich nicht in Frage. Ich bin verbannt aus ihrer Welt. Was will sie mit einer Werwölfin als Tochter? Und was will ich als Werwölfin mit ihr?
    Schritte kommen knisternd näher, dann spüre ich Norrocks Hand in meinem Nacken. Hart sind seine Fingerspitzen, als wären sie auch als Mensch noch krallenbewehrt. «Shorou?»
    Langsam komme ich auf die Beine, reibe die Tränen aus meinem Gesicht und drehe mich zu ihm um. Der Leitwolf ist müde geworden, heute Nacht lässt er die Maske der Unbesiegbarkeit fallen. Seinen Kopf hat er zwischen die Schultern in der schwarzen Lederjacke gezogen. Er hat seine Hand an den Baum gelegt, um das Zittern, das jetzt fast schon zu ihm gehört, zu unterdrücken. Ich kenne das, ich erinnere mich. Thursen zitterte auch oft so, als er noch Werwolf war und sich nicht verwandeln wollte. Norrock ist schon lange da, wo es nicht mehr weitergeht. Der Schmerz um Sjöll, die Anstrengung, die Wut, haben sich Tag für Tag mehr in sein geisterblasses Gesicht gegraben.
    «Warum gibst du diesen Kampf nicht einfach auf, Norrock?», frage ich. «Sjöll hat mal gesagt, Wolf zu werden und alles zu vergessen, wäre ihr Ziel. Dumpfer, tierischer, innerer Frieden war es, was sie wollte. Und du? Warum quälst du dich immer und immer wieder, Mensch zu werden?»
    Er grinst sein schiefes Grinsen. «Weißt du nicht mehr, warum? Vielleicht muss ich deinem löcherigen Werwolfsgedächtnis auf die Sprünge helfen? Nick lebt noch immer und ist frei. Du siehst, ich habe noch ein, zwei Sachen zu erledigen. Oder sagen wir lieber, jemanden?» Er guckt mich an. «Du heulst immer noch wegen deinem Bruder? Ich dachte, das hättest du endlich vergessen.»
    «Seit ich bei den Shinanim war, ist die Erinnerung wieder wach. Es geht nicht weg, Norrock. Nachts träume ich von Fabian, und am Tag erinnert mich irgendwas an ihn, und der Schmerz ist wieder da. Er hat sich einfach so aus meinem Leben davongestohlen. Jetzt sitze ich hier an seinem Trauerbaum. Das hilft ein bisschen. Ich fühle mich fast, als wäre ich ihm nah, aber ich kann ja nicht wirklich mit ihm reden.»
    «Ich schätze, du willst mich jetzt an unseren Deal erinnern?»
    Und auch die Erinnerung ist wieder da. «Ja, der Deal.» Ich putze mir meine Nase mit einem zerknüllten Taschentuch. «Du wolltest mir das Tor zum Totenreich zeigen, damit ich meinen Bruder noch mal sehen kann.»
    «Du warst bereit, den Preis zu zahlen.»
    «Hör auf, Norrock. Was willst du hören? Dass ich zugestimmt habe, Elias vorzuspielen, ich wäre in ihn verliebt? Dass ich zugestimmt habe, ihn in seiner Wohnung zu beschäftigen, damit du Nicks ganze Bande in Ruhe umbringen kannst? Ja, ich schäme mich, so etwas versprochen zu haben.»
    «Komm, Mädchen, es war Elias, einer von denen!»
    «Ja, ich weiß jetzt, dass Elias mein schlechtes Gewissen nicht verdient, weil er die ganze Zeit Nick beschützt hat. Aber damals habe ich ihn für einen Freund gehalten. Und Freunden tut man so was nicht an.»
    «Klar, darum hast du es ja auch nicht gemacht!»
    «Genau, darum habe ich Elias gesagt, was ihr vorhattet. Und glaub mir, es

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