Schattenblüte. Die Erwählten
ist mir nicht leichtgefallen!»
«Ja, ja, ich weiß. Immerhin warst du so nett, mit deiner Warnung so lange zu warten, bis wir Nick und seinen Leuten wenigstens ein bisschen in den Arsch treten konnten.» Er grinst. «Hey, und ich hatte Elias’ Hals zwischen meinen Zähnen. War ein richtig gutes Gefühl. Hatte der Schiss!»
«Du hast ihn nicht getötet.»
Er schnaubt verächtlich. «Blöd von mir, oder?»
«Weil du nicht getan hast, was du dir vorgenommen hattest? Da muss ich mir ja wohl noch viel blöder vorkommen. Du hast mir die Chance geboten, meinen Bruder noch einmal zu sehen. Etwas, das ich schrecklich gerne wollte. Doch ich habe ein schlechtes Gewissen bekommen und auf jemanden Rücksicht genommen, der es nicht wert war. Ich dachte, Elias und ich wären Freunde – trotz allem. Dabei wollte er nur Nick schützen. Viel blöder kann man nicht sein. Können wir jetzt bitte ins Lager zurückgehen und nicht mehr davon reden?»
«Nein, können wir nicht, denn jetzt bezahle ich meine Schulden.»
«Obwohl ich Elias gewarnt habe?»
«Du hast Wort gehalten, wenigstens ein bisschen.» Er stößt sich von dem Baum ab, in dessen Rinde er seine Finger gekrallt hatte. «Komm, ich zeige dir das Tor.»
Er geht los, und ich laufe ihm nach.
«Jetzt?»
«Gibt es einen besseren Zeitpunkt?», sagt er über die Schulter, ohne anzuhalten.
Eine Krähe folgt uns.
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27. Elias
ZURÜCK in meinem Zimmer fällt mir auf, dass inzwischen offenbar jemand auch hier ein Engelsbild an die Wand gehängt hat. Es muss eins der Bilder aus dem Raum sein, in dem die Werwölfinnen gewütet haben. Es hat ein kleines Loch, wie von einem Stich, und der Rahmen des Bildes hat an der Ecke einen Sprung, als wäre es daraufgefallen. Doch was kann so eine Beschädigung seiner Schönheit anhaben? Ich sehe dem Engel Michael, oder Mikal, wie ihn manche nennen, in sein stolzes Gesicht.
Ich hatte mich im ersten Moment gefragt, warum man mir ein beschädigtes Bild ins Zimmer hängt, doch dann begreife ich, warum: Michael ist der Fürst des Lichts, der das Böse in Gestalt des Drachen in die Hölle hinabstürzt. Er hält neben dem Flammenschwert einen Brustschild, auf dem sein Name steht, der übersetzt bedeutet: «Wer ist wie Gott?», und der in diesem Krieg der Schlachtruf der Engel war.
Auf diesem Bild hat Michael nicht nur Flügel mit zartgrünem Schimmer, sein Gesicht ist fast weiß. Nach einer rabbinischen Erzählung ist Michael ganz aus Schnee, und sein Metall ist das Silber. Silber wie die Spitzen der Lanzen, die wir gegen die Werwölfe einsetzten. Silber wie die Ketten, mit denen wir die Werwölfinnen an das Kreuz gebunden haben. Michael stürzt silberbewehrt das Böse in die Hölle zurück. Genau wie wir Shinanim das Böse, das die Menschen zu Werwölfen macht, mit Hilfe von Silber besiegen werden.
Ich packe die Sachen, die Chiara mir gebracht hat, weiter aus. Da ist mein Schlafanzug, ebenso Wäsche und ein Shirt. Weiter unten in der Tasche, in einem Sockenpaar, steckt etwas. Ein gefalteter Zettel. Darauf steht in Adrians Schrift:
Lass dich von all den wichtigen Shinan-Ratsleuten nicht blenden. Frag öfter mal nach, warum sie tun, was sie tun. Und denk immer dran: Gehorche niemandem, nur deinem Gewissen.
O Gott, der Spinner! Als wenn man mich vor unseren eigenen Leuten warnen müsste!
Ich rufe ihn an. «Hey, bist du schon über deinen Auftrag informiert?»
«Ja. Konstantin hat mir die frohe Kunde überbracht. Hast du meinen Zettel gefunden?»
«Das hier ist kein Räuber- und Gendarmspiel. Wir Shinanim stehen alle auf derselben Seite! Ich wollte nur wissen, ob du informiert bist.»
«Bin ich, Elias, vielen Dank für den ehrenvollen Auftrag. Ich habe erst gedacht, ich träume, aber das liegt wohl daran, dass der Anruf vom Rat der Shinanim mich aus dem Schlaf geholt hat. Jetzt bin ich gerade erst halb in meiner Hose, und das Auto, das mich zu euch bringen soll, steht unten im Hof. Alles bestens, wir sehen uns in einer halben Stunde, aber wenn ich dieses Gespräch nicht jetzt beende, muss ich ohne Socken los.»
«Dann lass dich nicht aufhalten!»
Ich vertreibe mir noch ein paar Minuten die Zeit, packe die Tasche zu Ende aus. Dann schlage ich den Kragen meiner Ratskleidung herunter, um die geheimen Zeichen wieder zu verbergen, und gehe hinunter in die Eingangshalle. Delwin ist dort und wartet wie ich auf Adrian. In seinem Gesicht sind keinerlei Spuren von Müdigkeit zu erkennen. Er betrachtet etwas auf seinem Handy.
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