Schattenblüte. Die Erwählten
beeilen. Wenn du drin bist, sieh zu, dass du deinen Bruder findest, sag ihm, was immer du sagen willst, und komm sofort wieder raus, klar?»
«Sonst passiert was?»
«Woher zur Hölle soll ich das wissen! Meinst du, es war schon mal jemand verrückt genug, da drinnen ein gemütliches Kaffeekränzchen abzuhalten? In der Schattenwelt ist so viel auf einmal von unserer Kraft. Wenn du zu lange dort bist, kommst du vermutlich nicht mehr raus. Oder du löst dich auf in Nebel. Irgend so was in der Richtung.»
Ich schweige. Versuche, meine Angst zu dämpfen. Meine Angst und auch meine Aufregung. Das ist jetzt der Wendepunkt. Gleich werde ich meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt bekommen. Ich werde meinem Bruder auf Wiedersehen sagen können, oder, wenn es ganz und gar schiefgeht, mit ihm sterben. Dann wäre auch Thursen frei. Wenn ich sterbe, muss Thursen nicht bei mir im Wald bleiben.
Wie es auch ausgeht, keine Sehnsucht nach meinem Bruder wird mich mehr quälen und keine Was-wäre-wenn-Gedanken. Was wäre, wenn Fabi jetzt hier wäre? Ich werde ihn in den Arm nehmen, ihm sagen, wie sehr ich ihn vermisse, und dann lasse ich ihn für immer gehen, oder ich gehe mit ihm. So einfach.
Norrock ändert die Richtung, aber er wird nicht langsamer. «Hast du Schiss?», fragt er mich über die Schulter, weil ich auf einmal Mühe habe, mit ihm Schritt zu halten. «Wir müssen das nicht machen. Wir können auch einfach zurück ins Lager und die ganze Sache vergessen.»
Ich laufe ein paar Schritte und schließe zu ihm auf. «Nein, ich mache es. Wenn es eine Möglichkeit gibt, meinen Bruder zu sehen, dann tu ich alles dafür. Ich muss es einfach versuchen, egal, was passieren kann.»
«Also gut.» Und dann legt er auf einmal die Hand auf meine Schulter und stoppt mich. «Warte.»
Ich bleibe neben ihm stehen und blicke mich um. «Worauf?» Hier sieht der Wald aus wie eben auch. Kahle Baumstämme, ein paar Fichten mit ihren grünen Weihnachtsbaumnadeln, nacktes Gestrüpp. Und schon wieder eine Krähe. Sollte die nicht schlafen?
Als keine Antwort kommt, drehe ich den Kopf wieder zu ihm. Heimlich und still ist er neben mir zum Wolf geworden. Er steht da, legt den Kopf in den Nacken. Atmet, als wollte er den Duft des Waldes trinken. Und dann, dann öffnet er das Maul mit den weißen scharfen Zähnen und heult. Seine Töne durchdringen die Winterkälte. Doch dieses Heulen ist anders. Ich will nicht mitheulen, nur das nicht. Ich will mich ducken und vor Angst die Nackenhaare aufstellen. Es kostet mich alle Kraft, in meiner menschlichen Gestalt auszuharren. Er heult noch mal, einen langen Ton, ohne Anfang, ohne Ende. Es dauert, bis ich wieder atmen kann, bis ich erkenne, was er da gerade tut. Norrock, der Anführer der Werwölfe, ruft den Nebel herbei. Weiße Schwaden quellen auf seinen Ruf hin aus dem Boden hervor und hüllen uns ein. Immer weiter steigen sie auf, bis sie über unsere Köpfe hinwegreichen. Und dann geht Norrock einfach weiter, mitten in den Nebel hinein, und mir bleibt nichts übrig, als ihm zu folgen. Dicht zu folgen, denn man sieht nichts. Norrocks Schritte sind lautlos. Kann ich sie nur nicht hören, oder hat er einfach aufgehört, den Boden zu berühren?
Ich bin nicht so wie er. Ich strauchele über Äste, die aus dem weißen Nichts heraus als Stolperfallen nach meinen Knöcheln angeln. Ich will mich mit den Händen an Bäumen abstützen, die dann doch nicht da sind. Nicht dort, wo ich sie vermute jedenfalls. Und der weiße Nebel wird noch dichter, schluckt die Sterne, die Bäume, den Boden zu meinen Füßen, bis nichts mehr da ist, das mir verrät, wo ich bin.
«Was ist das hier?», frage ich. «Norrock!» Greife nach seinem Pelz und fasse ins Leere. Sein Umriss verwischt.
«Du bist in der Nebelwelt. Wir sind jetzt auf der Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten. Das ist unsere Welt.» Er dreht sich zu mir, und ich bin mir fast sicher, dass ich in seinem Menschengesicht Wolfszähne schimmern sehe. «Die Werwolfswelt.» Wolfsaugen sind es, die mich ansehen. «Na, wie fühlt es sich an, meine Werwölfin?»
Und dann heult Norrock noch einmal, heult ein Wolfsheulen aus seinem Menschenmund. Mensch und Wolf, hier im Nebel ist er beides zugleich. Und ich? Meine Hände haben seltsam unscharfe Ränder. Haarig sind sie und doch nicht. Vorsichtig bewege ich meine Krallenpfotenfinger.
Noch ein letztes Heulen, dann reißt Norrocks Nebel an einer Stelle auf und wird zu einem Portal. Einem Portal ins blinde
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